Bochum. Von Penis-Vermessungs-Studie bis zur rezeptfreien „Pille danach“: Pro Familia Bochum hat Jubiläum und blickt auf Veränderungen und Meilensteine.

Die Beratungsstelle von Pro Familia in Bochum feiert Jubiläum und blickt von der „Penis-Vermessungs-Studie“ bis zur rezeptfreien „Pille danach“ auf 50 Jahre voller Veränderungen, Meilensteine und Herausforderungen zurück, ist aber auch gewappnet für die Krisen der Zukunft.

Aufgabenbereiche seit Gründung stark gewachsen

Vor 50 Jahren wurde die Arbeitsgemeinschaft Bochumer Frauenverbände gegründet, um Beratungsangebote für Frauen zu ermöglichen und über Sexualität und Verhütung zu sprechen. Aus diesen Strukturen hat sich dann die Pro Familia gebildet. In der Windmühlenstraße hatten sie Räume bei der Diakonie gemietet, die Miet- und Personalkosten waren sehr gering. Doch die Aufgabenbereiche sind seitdem stark gewachsen, ein Schwangerschaftsabbruch ist zu dem Zeitpunkt noch eine Straftat gewesen.

In den ersten Jahren hat es mehrere Zweigstellen von Pro Familia in ,,Brennpunkten“ Bochums gegeben, zum Beispiel im Zillertal in Riemke, um vor Ort vor allem Schwangere zu beraten.

Anfänge getragen vom Engagement

In den Anfangszeiten haben vermehrt Ärztinnen und Ärzte bei Pro Familia gearbeitet, um die „Pille“ zu verschreiben, denn um ein Rezept für das Verhütungsmittel zu erhalten, mussten Frauen verheiratet sein. In der Erotik-Zeitschrift ,,Die Praline“ wurde dann auch die Telefonnummer der Pro Familia veröffentlicht mit der Information, dass sich dort auch unverheiratete Frauen die „Pille“ verschreiben lassen können.

,,In den ersten Jahren wurde alles getragen vom Engagement der Mitarbeiter, die zum Beispiel eigene Möbel mitgebracht haben, um die Beratungsräume einzurichten,“ sagt die Sexualpädagogin Renate Pawellek, die seit 34 Jahren bei der Pro Familia Bochum tätig ist.

Im Jahr 1979 gab es erste Bemühungen auch präventiv tätig zu werden und durch die Hochphase von HIV/Aids 1988 wurde die erste finanzierte volle Stelle geschaffen. Daraufhin wurde die Aids-Hilfe gegründet, um die breite Masse aufzuklären.

Broschüre von Pro Familia aus der Gründungszeit
Broschüre von Pro Familia aus der Gründungszeit © Morris Willner

,,Penis-Vermessungs-Studie“ ist Meilenstein gewesen

Ein Meilenstein der Pro Familia Bochum ist die ,,Penis-Vermessungs-Studie“ im Jahr 2000 gewesen. Ausgehend davon, dass es nur auf 18 Zentimeter genormte Kondome gab, wurden zusammen mit dem Essener Uniklinikum die Penisse von 18- bis 19-jährigen Männern vermessen, um eine reale durchschnittliche Penisgröße herauszufinden. ,,Erstaunlicherweise ist es gar kein Problem gewesen, an Probanden zu kommen“, sagt Renate Pawellek. 111 junge Männer zwischen 18 und 19 Jahren und 32 im Alter von 40 bis 68 Jahren nahmen an der Studie teil.

Das Ergebnis: Der durchschnittliche Penis ist 14,5 Zentimeter lang und bei 20 Prozent der Probanden würde ein Standard-Kondom abrutschen, bei jungen Männern im Wachstum wären es noch mehr. Mit dieser Studie wurde ein Thema enttabuisiert und erstmals verschiedene Kondom-Größen eingeführt. Als weitere Errungenschaft der letzten 50 Jahre nennt die Sexualpädagogin, dass seit März 2015 die ,,Pille danach“ rezeptfrei in Apotheken zu bekommen ist. ,,Das war ein langer und mühsamer Kampf“.

Heute steht die Pansexualberatung im Fokus: Eine umfassende Beratung für alle Altersgruppen, Geschlechter und Probleme. ,,Mein ältester Klient ist 72 Jahre alt!“ sagt der Leiter der Pro Familia Bochum, Jörg Syllwasschy. Von Verhütung, Kinderwunsch und Schwangerschaftsabbruch-Beratung bis zu kostenloser juristischer Beratung bietet die Pro Familia ein breites Feld. Die finanzierten Stellen zur Schwangerschaftsabbruchberatung sind in den letzten 50 Jahren enorm gewachsen, heute arbeiten drei Mitarbeiterinnen in dem Bereich. In Bochum ist die Pro Familia die größte von drei Beratungsstellen. ,,Mit einer Ärztin, Psychologen, Sozialarbeiterinnen und Sexualpädagoginnen auf einem Flur arbeiten wir heute multiprofessionell, im Sinne der Klientinnen und Klienten“, so Jörg Syllwasschy.

Einsamkeit und Porno-Abhängigkeit während der Pandemie

Auch durch die Pandemie seien neue Probleme entstanden: Auf der Seite der Pro Familia, die auf die Technik für digitale Angebote nicht vorbereitet waren, aber vor allem auch bei Klientinnen und Klienten. Die Nachfrage an Pansexualberatung ist größer geworden, da Paare sich plötzlich 24 Stunden am Tag begegnet sind. Außerdem sind Anfragen wegen Porno-Abhängigkeit gestiegen und ein Thema, das eine große Gruppe betroffen hat, war Einsamkeit.

,,Sexualität ist eine Kultur- nicht Naturleistung. Wir haben immer auf Wellen reagiert und reagieren müssen. In den frühen 90er-Jahren kamen viele Flüchtlinge aus Osteuropa, zur Zeit viele aus der Ukraine.“ Die Institution hat einen Dolmetscher-Pool aus Ehrenamtlichen. ,,Ein Recht ist erst dann ein Recht, wenn ich es kenne. Dazu haben wir unsere Broschüren auch in allen Sprachen. Zum Beispiel nach Ausbruch des Jugoslawien-Kriegs kam plötzlich eine neue Sprache dazu. Jetzt sind wir auf alles vorbereitet!“ sagt Renate Pawellek.

Energiekrise, Generationenwechsel und Finanzierung Herausforderungen der Zukunft

,,Eine Beratungsstelle, die mit einem so lebendigen Thema wie Sexualität zu tun hat, muss sich mit der Zeit verändern,“ sagt Renate Pawellek. Dadurch, dass mehrere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bereits sehr lange bei der Pro Familia in Bochum sind, steht bald ein Generationenwechsel an. Die Älteren gehen und müssen ihre Erfahrungswerte an die Jüngeren abgeben.

Eine weiter Herausforderung in der Zukunft sieht Jörg Syllwasschy angesichts der Energiekrise, Inflation und steigenden Lebenshaltungskosten: ,,Was macht das mit Beziehungen und Sexualität?“ Dazu kommt, dass die Grundlage der Arbeit eine stabile Finanzierung sei. In den nächsten Jahren seien sie vermehrt auf Spenden angewiesen. Aktuell wird der Großteil vom Land NRW geleistet. Außerdem werden sie durch die Stadt Bochum unterstützt, aber nicht vollständig und nur so viel, wie es der Bochumer Haushaltsplan hergibt.

Aber das Problem haben viele Einrichtungen. Problematisch sieht Jörg Syllwasschy zudem, dass die Schwangerschaftsabbruchversorgung sehr dünn ist. ,,Das ist aber ein bundesweites Problem, im Ruhrgebiet sind wir sogar noch recht gut versorgt. Leider spitzt sich hier die Lage in absehbarer Zeit zu: Überalterung und fehlende Nachfolger,“ sagt Syllwasschy.

Zum 50-jährigen Jubiläum gab es am 24. August einen Festakt im Bahnhof Langendreer, um gemeinsam mit Ehemaligen und Partnern zu feiern.