Bochum-Nord. Florian Bessel und Kay-Moritz Ebbinghaus aus Bochum sprachen mit der deutschen Jüdin Esther Bejarano kurz vor ihrem Tod. Das Interview als Buch.
Es ist eine Tatsache: Die Menschen, die den Zweiten Weltkrieg und die Herrschaft der Nationalsozialisten persönlich miterlebt haben, sterben aus. Der Kriegsbeginn am 1. September 1939 jährt sich bald zum über 80. Mal. Wer heute noch lebt, war damals ein junger Mensch.
Bochumer Schüler führen letztes Interview mit Esther Bejarano
Das bedeutet auch: Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sterben aus. Die deutsche Jüdin Esther Bejarano war eine solche Zeitzeugin, sie ist im Juli vergangenen Jahres verstorben. Doch ihre Erinnerungen an die Verfolgung der Juden und Bedrohungen durch die Nazidiktatur sind nicht für immer verschwunden: Zwei Bochumer Schüler sind zu „Zweit-Zeugen“ geworden.
Sie haben Bejarano kurz vor ihrem Tod in Hamburg getroffen und interviewt. Das Interview ist nun in Buchform erschienen. „Die Fragen haben wir gemeinsam erarbeitet und haben im Vorfeld natürlich über das Leben von Esther Bejarano recherchiert“, sagt Bessel. Da ließ sich herausfinden: Bejarano wird als Esther Loewy im Saarland in ein musikalisches Elternhaus geboren. Vater Rudolf Loewy ist Kantor einer jüdischen Gemeinde, Esther das jüngste von vier Geschwistern. Das Mädchen ist gerade zehn Jahre alt, da macht sich der Antisemitismus breit und Repressionen nehmen zu. Eine „arische“ Schule darf sie nicht mehr besuchen.
Akkordeonspielerin im KZ
Mit 16 Jahren kommt Bejarano in ein Zwangsarbeiterlager, zwei Jahre später wird sie mit einem Viehwaggon ins Konzentrationslager Auschwitz gebracht. Weil sie dort im Mädchenorchester Akkordeon spielt, überlebt sie das Konzentrationslager. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs gelingt ihr bei einem Todesmarsch die Flucht aus dem Konzentrationslager Ravensbrück. Später wandert Bejarano nach Palästina aus, kehrt aber 1960 nach Deutschland zurück und engagiert sich gegen Rechtsextremismus.
Bessel und Ebbinghaus, zwei ehemalige Schüle des Heinrich von Kleist-Gymnasiums, haben mit Bejarano über diese Zeit gesprochen. „Sie hat sehr intensiv erzählt, über die Zeit in Auschwitz, über Querdenker aber auch über ihr Leben als Musikerin“, sagt Bessel. „Eigentlich war noch ein zweiter Termin geplant, sie ist jedoch dann verstorben. Schon bei unserem Termin war sie gesundheitlich stark angeschlagen, die Nacht zuvor gefallen“, sagt der Schüler. Den Wunsch von Bejarano, die Erinnerung an das Grauen wachzuhalten, konnten die Schüler dennoch erfüllen: „Die Umsetzung ging relativ schnell, wir haben das Buch innerhalb weniger Wochen fertig gehabt“, sagt der 17-Jährige, der aktuell eine Ausbildung zum Veranstaltungskaufmann macht.
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Die Idee kam vom Bochumer Medienberater Sascha Hellen, der bereits Bücher zusammen mit Peter Maffay, Margot Friedländer und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger veröffentlicht hat. Nun aber sollten Jugendliche die Fragen stellen, denn Bejarano wollte ihre Botschaften vor allem an die jungen Menschen weitergeben.
Appell an die junge Generation
„Was hat Ihnen in Auschwitz, in der Hölle, die Kraft gegeben zu überleben?“ – „Warum gab es eigentlich in Auschwitz ein Orchester?“ – „Wie viele Menschen haben darin gespielt?“ – „Wie viele haben überlebt?“ und „Sind Gespräche wie dieses Ihr Vermächtnis? – Solche Fragen haben die Schüler an die damals 96-Jährige gestellt. „Esther war eine starke Frau, eine mutige Frau. Das ist mir aufgefallen“, sagt Bessel rückblickend. Eine ihrer Antworten war ein eindringlicher Appell an die nachwachsende Generation: „Bald wird es keine Zeitzeugen mehr geben. Daher müssen wir unsere Geschichten weitergeben, aufschreiben und noch versuchen möglichst viele von euch zu erreichen. Ihr müsst dann unsere Geschichten weitertragen, ihr müsst uns eine Stimme geben.“
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Kein Hass auf Täter entwickelt
„Esther Bejarano hat uns sehr deutlich mit auf den Weg gegeben, dass wenn wir ihre Geschichte weitererzählen, wir uns zu so genannten Zweit-Zeugen machen“, erklärt Bessel. Es sei ihm wichtig, das Erbe wachzuhalten. Es gab aber auch Antworten, die den 17-Jährigen überrascht haben. „Ich habe sie gefragt, ob sie jemals Hass auf die Täter entwickelt hat“, sagt er. Bejarano antwortete den Schülern: „Ich hatte damals kein Gefühl von Hass in mir. Es war eher der Wunsch zu überleben, der mich angetrieben hat. Schon zu ihren Lebzeiten hat Bejarano sich immer wieder eingemischt - protestierte auf Demos gegen Neonazis, übernahm den Vorsitz des deutschen Auschwitz-Komitees und sang mit der Band „Microphone Mafia“ auf Konzerten gegen rechts. Bis zuletzt suchte Esther Bejarano den Dialog mit Jugendlichen. Nun sind es andere, die es für sie tun müssen.
Lesung und Diskussion in Heinrich-von-Kleist-Schule in Bochum
Es waren zwei ehemalige Schüler der Heinrich-von-Kleist-Schule im Bochumer Norden, die dieses letzte Interview mit ihr führen durften: Florian Bessel und Kay-Moritz Ebbinghaus hatten sie kurz vor ihrem Tod besucht. An dieser Schule fand am Montag die Lesung und Diskussion dazu statt. Ab der 2. Stunde las zunächst die Bochumer Künstlerin Esther Münch aus dem Buch „Nie Schweigen“ vor, in dem das Interview aufgeschrieben ist. Es folgte eine Podiumsdiskussion, u.a. mit Florian Bessel sowie Petra Pau, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, und Abraham Lehrer, Vizepräsident des Zentralrats der Juden. Die Schülerinnen und Schüler der Oberstufe waren mit ihren Kurslehrkräften zur Lesung und Diskussion im Forum des Schulzentrums Nord zusammengekommen.
Buch im Bonifatius-Verlag
Das Buch ist im Bonifatius-Verlag erschienen und kostet 14 Euro. Es hat 144 Seiten und enthält auch Beiträge von Fußballer Leon Goretzka und Schauspieler Samuel Koch. Esther Bejarano starb im Juli 2021 im Alter von 96 Jahren. Sie wurde auf dem Jüdischen Friedhof Ohlsdorf in ihrer Wahlheimat Hamburg beigesetzt.