Wattenscheid. In Wattenscheid sind die Corona-Zahlen höher als im reicheren Süden Bochums. Hat das etwas mit Armut oder dem hohen Migrantenanteil zu tun?

In Wattenscheid liegen die Corona-Zahlen seit Monaten über den Schnitt. Auch wenn die Stadtteil-Inzidenz laut den jüngsten Zahlen mit 166,8 erstmalig unter den Durchschnittswert der Stadt gesunken ist, scheint der Stadtteil besonders betroffen. Aber welche Gründe gibt es für die hohen Zahlen?

Diverse Studien sehen ein höheres Krankheitsrisiko bei sozial benachteiligten Menschen. Auch in Essen und Duisburg etwa stechen ärmere Stadtteile mit hohem Migrantenanteil mit hohen Infizierten-Zahlen hervor. Während Nachbarstädte das auch offen kommunizieren, sieht man bei der Stadt Bochum kein besonderes Ausbruchsgeschehen.

Nach mehrfachen Anfragen der WAZ veröffentlicht die Stadt mittlerweile monatlich die Infizierten-Zahlen für ihre Stadtbezirke. Immer mit dem Hinweis, dass darüber keine Aussage darüber getroffen werden könne, inwiefern ein soziales oder bauliches Umfeld Auswirkungen habe. Ob bei den Neuinfektionen etwa Menschen mit Migrationshintergrund besonders betroffen sind, werde nicht ausgewertet.

Migranten und Corona: Integrationsausschussvorsitzende findet deutliche Worte

Deutliche Worte hatte dagegen zuletzt Zoubeida Khodr (SPD), Vorsitzende des Integrationsausschusses, im Gespräch mit der WAZ gefunden. Sie sehe bei Migranten eine fehlende Bereitschaft, sich an Regeln zu halten. Außerdem seien nur die wenigsten Migranten bereit, sich impfen zu lassen.

Etwas differenzierter sehen das die Menschen im Stadtteil. Seinen Namen in der Zeitung lesen möchte niemand. „Meine Eltern hoffen, dass sie auch endlich an der Reihe sind“, erzählt eine Wattenscheider Friseurin mit türkischem Migrationshintergrund. Eine Impfskepsis erlebe sie in ihrem Umfeld nicht. Im Gegenteil: „Ich habe zwei Familienmitglieder an Corona verloren. Wir sind froh, wenn wir endlich geschützt sind.“ Ganze andere Erfahrungen hat ein Kollege mit einem Salon in der Bochumer City gemacht: „An Regeln halten sich viele nicht. Testen wollen die sich auch nicht, damit sie nicht in Quarantäne müssen.“

August-Bebel-Platz und Germanenviertel

Ortsbesuch: Am August-Bebel-Platz sitzt die Trinker-Szene - völlig unbeeindruckt von Kontaktbeschränkungen und Abstandsregeln. Fast täglich gebe es dort Kontrollen vom Ordnungsamt, heißt es auf Nachfrage von der Stadt. „Festgestellte Verstöße (...) werden grundsätzlich sanktioniert. Dies können Aufklärungsgespräche und Platzverweise seien. In Ausnahmefällen auch Bußgelder“, so die Stadt. Auch die Polizei bestätigt, dass es dort bereits häufiger zu Verstößen gekommen sei. Aber: Dass Wattenscheider besonders häufig die Regeln ignorieren, werde nicht beobachtet.

Hans Dylla hält vor allem Jugendliche für ein Problem.
Hans Dylla hält vor allem Jugendliche für ein Problem. © FUNKE Foto Services | Svenja Hanusch

Auch das Germanenviertel gilt unter Wattenscheidern in Teilen als Problemviertel. In den hohen Wohnblöcken lassen sich Kontakte unter den Nachbarn nicht vermeiden. Hans Dylla (67) wohnt seit 30 Jahren dort und kennt - so sagt er - alle im Viertel. Auch er trifft sich mit mehreren Bekannten zum Quatschen und Biertrinken - obwohl das verboten ist. „Wir halten Abstand, von uns hat keiner Corona bekommen“, sagt der Witwer achselzuckend. Er sieht das Problem in seinem Viertel woanders. „Die Jugendlichen, die halten sich hier an keine Regeln. Da gibt es ständig Probleme.“

Politik macht nun auch Druck

Im Gesundheitsausschuss hat sich nun auch die Politik des Problems angenommen. Die Linke fordert ein Konzept für besonders betroffene Stadtteile mit mehrsprachiger Beratung und mobilen Teams.„Infektionsschutz im großen Eigenheim und mit Homeoffice-Job fällt natürlich leichter als unter beengten Wohnverhältnissen und bei einem Fabrik- oder Dienstleistungs-Job mit vielen Kolleginnen und Kollegen“, sagt Fraktionsvorsitzende Gültaze Aksevi.

In einem gemeinsamen Antrag fordern auch Grüne und SPD den Ausbau von mehrsprachigen Angeboten zur Aufklärung. Auf Vorschlag der CDU-Fraktion prüfe die Verwaltung, in den Stadtvierteln in Zusammenarbeit mit den örtlichen Trägern, inwiefern es möglich sei, eine Impf-Beratung in der jeweiligen Muttersprache anzubieten. „Die Herkunft spielt keine wesentliche Rolle“, sagt Ayse Balyemez, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen. „Ignoranz gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen und die Missachtung von Regeln findet man in allen Bevölkerungskreisen. Die Corona-Leugnerszene rekrutiert sich größtenteils aus der Mehrheitsgesellschaft. Jetzt auf die Migranten zu zeigen ist falsch.“

Auch dazu gab es bereits Gegenstimmen. Etwa von Dr. Michael Tenholt, Vorsitzender des medizinischen Qualitätsnetz (MedQN) Bochum mit 150 Haus- und Fachärzten: „Grundsätzlich tragen Menschen in sozialen Brennpunkten ein bis zu siebenfach erhöhtes Corona-Risiko. Bei Bürgerinnen und Bürgern mit Migrationshintergrund kommen vielfach sprachliche Hürden sowie kulturelle und religiöse Aspekte dazu, etwa Treffen in größeren Gemeinschaften wie jetzt im Ramadan.“ Die Folgen seien in Arztpraxen und Kliniken längst sichtbar: „Der Anteil der Migranten an den Corona-Erkrankten ist dort deutlich höher als an der Gesamtbevölkerung“