Essen. Wo Armut herrscht, Menschen beengt wohnen und viele Migranten leben, schlägt das Corona-Virus besonders heftig zu. Doch konkrete Daten fehlen.
Das Corona-Virus wütet nicht überall gleich schlimm. Die Infektionszahlen markieren oftmals recht exakt die sozialen Grenzen innerhalb einer Stadt. Betroffen scheinen vor allem arme Familien und Menschen mit Migrationshintergrund zu sein. So zeichnet sich in den großen Städten des Ruhrgebiets ein recht klares Nord-Süd-Gefälle ab. In Quartieren, wo viele große Familien leben, die Arbeitslosigkeit sowie der Migrantenanteil hoch sind, sind die Infektionszahlen deutlich höher als in bürgerlichen Stadtvierteln.
So stecken sich in auch Essen tendenziell mehr Bürger im Norden an, sowohl bei den absoluten Zahlen als auch bezogen auf die Einwohnerzahl. Anfang April waren zum Beispiel im Stadtbezirk III, der die Viertel Frohnhausen und Altendorf umfasst, etwa dreimal so viele Menschen infiziert wie im wohlhabenden Bezirk IX mit Bredeney und Werden. Ähnlich ist die Lage in Dortmund oder Duisburg. Obwohl dort stadtweit die Infektionszahlen immer weiter gestiegen sind, war die Sieben-Tage-Inzidenz in Duisburg-Süd im März nur etwa halb so hoch wie in Hamborn oder Meiderich.
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Zugleich häufen sich Berichte, wonach ein großer Teil der Intensivbetten in den Kliniken durch Migranten belegt seien. Gibt es zwischen diesen beiden Tendenzen einen Zusammenhang? Und steckt dahinter mehr als bloße Behauptungen?
Kliniken erheben keine Daten zur Herkunft
Eine Antwort ist nicht leicht zu finden. Mehr als die Hälfte der Intensivbetten wären von Muslimen belegt, dabei hätten sie nur einen Anteil von 4,8 Prozent der Bevölkerung. Das soll RKI-Chef Lothar Wieler gesagt haben. Sein Dementi kam schnell, die Aussage habe sich nur auf Schilderungen aus einzelnen Intensivstationen bezogen. Das RKI habe gar keine Informationen über Patienten mit Migrationshintergrund.
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Auch die Kliniken in der Region erheben keine Daten über Religionszugehörigkeit oder Herkunft ihrer Patienten. „Auf unseren Intensivstationen haben wir diese Merkmale nicht separat erhoben, können sie also auch nicht kommentieren“, teilt zum Beispiel das Katholische Klinikum Bochum mit. Ähnlich lautet die Antwort des Uniklinikums Essen.
Informationen kommen nicht an
Das NRW-Gesundheitsministerium verweist ebenfalls auf fehlende Daten: „Belastbare Zahlen zur Herkunft oder zum sozioökonomischen Status werden nicht im Rahmen des Meldewesens nach dem Infektionsschutzgesetz erhoben und liegen der Landesregierung nicht vor“, teilt das Ministerium mit. Somit lässt sich ein Zusammenhang zwischen Herkunft und Infektionen mit Zahlen nicht belegen.
Gleichwohl halten sich Berichte über eine überproportionale Belegung der Intensivbetten durch Migranten. Schon vor Wochen schilderte Frank Renken, Leiter des Dortmunder Gesundheitsamtes, dieser Zeitung seine Erfahrungen aus der zweiten Corona-Welle. Einen „nennenswerten Teil“ der Bevölkerung habe man grundsätzlich nicht erreichen können, um ihnen Informationen zur Corona-Gefahr zu geben.
Gemeint sind Menschen mit Migrationshintergrund, die weder deutsche Zeitungen lesen noch deutsches TV sehen oder regionale Radiosender hören. „In der türkischen Community ist das kein großes Problem“, sagte Renken, „da weiß man Bescheid.“ Aber je kleiner die Bevölkerungsgruppe sei, desto größer sei das Bedürfnis, sich via Internet nur aus Heimatmedien zu informieren. Regionale Verordnungen, Impftermine, Testangebote vor Ort – das alles käme dort kaum an.
Pflegekräfte berichten von Intensivstationen
Krankenschwestern und Pfleger aus der Region bestätigen das, wollen aber ihre Namen nicht in der Zeitung lesen. So erzählt eine Krankenschwester von einer der deutschen Sprache kaum mächtigen Migrantin, die nach einem harmlosen Routineeingriff in der Klinik positiv auf Corona getestet worden war. Weil sie keine schweren Symptome zeigte, wurde sie nach Hause geschickt. Sie müsse sich dort aber in Quarantäne begeben und dürfe keinen Besuch bekommen, erklärte man ihr. Die Frau habe genickt und „Ja, ja“ gesagt. „Wir dachten, sie hätte es verstanden.“ Später holte das Ordnungsamt sechs Männer und Frauen aus dem Haus, von denen zwei später mit Covid-19 im Krankenhaus landeten.
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Nicht die Regel aber offenbar auch kein Einzelfall, wie die Erfahrungen einer anderen Schwester aus dem westlichen Revier zeigen. 85 bis 90 Prozent der Menschen auf der Intensivstation ihrer Klinik, erzählt sie anonym, hätten Migrationshintergrund. „Die meisten sind erst zum Arzt gegangen, als es ihnen schon sehr schlecht ging.“
Soziale Lage ist entscheidend
Spielt also der Faktor Migration eine besondere Rolle in der Pandemie? Experten bezweifeln das und verweisen eher auf die Lebensumstände der Betroffenen. „Aus der Sozialforschung wissen wir, dass Unterschiede im Infektions- und Erkrankungsrisiko häufig auf sozioökonomische Ungleichheiten zurückzuführen sind. Dies gilt leider auch für die Pandemie“, so das Gesundheitsministerium. Deshalb sei davon auszugehen, dass Menschen in prekären Lagen häufiger von Covid-19 betroffen sind. „Der entscheidende Faktor ist die soziale Lage, nicht die Herkunft.“
Die Ursachen dafür seien vielfältig, betont der Bochumer Soziologe Volker Kersting. „Selbstverständlich sind Stadtteile stärker betroffen, die ohnehin die höchsten Herausforderungen haben. Und dort leben erfahrungsgemäß eben auch viele Menschen mit Migrationshintergrund.“ Armut, beengter Wohnraum, dichte Bebauung – all dies erhöhe das Risiko, sich anzustecken. Zudem profitierten eher besser qualifizierte Berufsgruppen von der Möglichkeit, von zu Hause aus arbeiten zu können.
Soziologe: „Sprachbarriere“ ist ein Problem
Ein Problem sieht Kersting allerdings in einer möglichen „Sprachbarriere“. „Viele Migranten oder benachteiligte Gruppen informieren sich kaum in deutschsprachigen klassischen Medien“, so Kersting. „Hier sehe ich schon einen Zusammenhang mit den Infektionszahlen.“Aus Studien bei Schuleingangsuntersuchungen in Städten des Ruhrgebiets sei bekannt, dass rund ein Drittel der Kinder zu Hause kein Deutsch spreche. Und in manchen Kitas seien Kinder aus armen Familien mit Migrationshintergrund nahezu unter sich.
Kersting: „Viele Eltern sprechen schlecht oder gar nicht Deutsch und haben womöglich keine Informationszugänge zu deutschen Medien.“ Hier sollten die Kommunen deutlich mehr Aufklärungsarbeit leisten. „Die Städte müssten gezielt Kampagnen starten in verschiedenen Sprachen, Plakate drucken, Fleyer verteilen, in Kitas und Schulen Informationen anbieten, Kontakte gezielt nutzen“, fordert der Soziologe.
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Viele Migranten im Niedriglohnsektor
Der Verweis auf eine „Sprachbarriere“ greift laut Caner Aver, Politik- und Integrationswissenschaftler am Zentrum für Türkeistudien in Essen, indes zu kurz. Er sieht keine kulturellen oder religiösen Hintergründe für hohe Infektionszahlen unter Migranten: „Die Pandemie ist ein weltweites Phänomen und trifft alle Kulturen.“ In allen Sprachen werde darüber berichtet, die Grundregeln seien überall gültig.
Das eigentliche Problem seien die sozialen Umstände. Rund ein Viertel der Migranten arbeite in „systemrelevanten“ Berufen, zum Beispiel in Krankenhäusern und Altenheimen, im Transport und der Paketzustellung oder im Einzelhandel. „40 Prozent der Beschäftigten in der Reinigungsbranche sind Migranten“, gibt Aver ein Beispiel. „Es sind überwiegend im Ausland geborene Migranten, die besonders häufig im Niedriglohnsektor beschäftigt sind.“ Damit seien sie und ihre Familien einem höheren Risiko ausgesetzt. Aver ist überzeugt: „Hier liegt das Problem, nicht in der Kultur oder der Religion.“
>>>> Laumann: Problem der Verständigung
NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann verweist auch auf ein Verständigungsproblem bei der Vermittlung amtlicher Regelungen: „Die Sprache kann ohne Frage eine Barriere sein, wenn es darum geht, Menschen über Corona-Maßnahmen aufzuklären“, sagte Laumann.
Deshalb habe das Ministerium Broschüren und Info-Blätter erstellt. „Und ich bemühe mich, auch in Formaten für ein arabisch- oder persischsprachiges Publikum aufzutreten“, so Laumann. „Es ist eine Frage der Kommunikation.“