Bochum. Sie war Jüdin, Politikerin und Frauenrechtlerin: Ottilie Schoenewald. Kaum jemand kennt noch die Lebensgeschichte der engagierten Bochumerin.
„Bochums Beste von gestern“: In dieser Serie stellt die WAZ Persönlichkeiten vor, die die 700-jährige Stadtgeschichte Bochums geprägt haben. Zum Beispiel: Ottilie Schoenewald.
Jüdisches Leben als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft
Vor dem Zweiten Weltkrieg war jüdisches Leben selbstverständlicher Teil des gesellschaftlichen Zusammenlebens in Bochum. Es gab die Synagoge an der heutigen Huestraße, es gab jüdische Schulen und Geschäfte, es gab jüdische Kanzleien, Bankhäuser und Sportvereine.
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Zu den Bochumer Honoratioren jüdischen Glaubens zählte die Kaufmannsfamilie Mendel, als deren siebtes Kind Ottilie Mendel am 21. Dezember 1883 zur Welt kam. Sie wuchs großbürgerlich und behütet von Dienstboten und Erzieherinnen auf, besuchte eine Höhere Töchterschule und wurde früh in das gesellschaftliche Leben eingeführt. Ihr Elternhaus gehörte dem liberalen Judentum an, der Vater war Vorstandsmitglied der jüdischen Gemeinde.
Seit 1905 war Ottilie Mendel mit dem Rechtsanwalt Siegmund Schoenewald verheiratet; in diese Zeit fällt auch ihr erstes Engagement in der sozialen Arbeit in diversen Frauenverbänden, dazu zählten der örtliche jüdische Frauenbund und die Bochumer Frauenrechtsschutzstelle.
Erste Rednerin im Bochumer Stadtparlament
Als 1918 das Wahlrecht für Frauen eingeführt wurde, zog Schoenewald für die Deutsche Demokratische Partei DDP als eine der ersten Frauen in den Bochumer Stadtrat ein, in dem sie auch als Rednerin als erste Frau überhaupt das Wort ergriff. 1926 tauschte sie ihre politische Arbeit vor Ort gegen eine überörtliche jüdische Verbandsarbeit ein – auch weil sie im Stadtparlament Anfeindungen von neu gewählten Nationalsozialisten befürchtete.
Bochums Beste von gestern: Hier gibt’s weitere Folgen der WAZ-Serie
Flucht vor den Nationalsozialisten nach England
Die 1933 installierte NS-Diktatur brachte spätestens mit der Reichspogromnacht 1938 für die Schoenewalds wie für alle jüdischen Familien in Bochum eine Zäsur: Siegmund Schoenewald wurde ins KZ Sachsenhausen verbracht, die Wohnung des Ehepaares verwüstet. Trotzdem blieb Ottilie Schoenewald aktiv, wie es ihrem Bericht über die Ausweisung der von den Nazis so genannten „Bochumer Ostjuden“ (Nachfahren von polnischen Zwangsarbeitern des 1. Weltkrieges) zu entnehmen ist: Im Oktober 1938 organisierte sie Hilfsgüter, sorgte für die Herbeischaffung koscheren Essens zum Gefängnis, in dem die Männer inhaftiert waren, konnte schließlich für Frauen und Kinder bei der Gestapo Plätze im Wartesaal der 3. Klasse am Nordbahnhof erwirken.
Gedenken und Erinnerung
Bochum hat sich in den letzten Jahrzehnten intensiv dem Andenken seiner jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger gewidmet und deren Verfolgung, Vertreibung und Ermordung während der NS-Diktatur erforscht und dokumentiert. So auch mit der Lebensgeschichte Ottilie Schoenewalds, die vergessen war.
Seit 1998 erinnern die Ottilie-Schoenewald-Straße zwischen Waldring und Arnikastraße und seit 2005 das Ottilie-Schoenewald-Berufskolleg (ehemals Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie) an der Wittener Straße an die bedeutende Bochumer Politikerin und Frauenrechtlerin.
Nach Siegmunds Entlassung aus dem KZ fiel die Entscheidung, Deutschland zu verlassen. Über Holland emigrierte das Ehepaar im Sommer 1939 nach England. Dort verstarb Siegmund Schoenewald 1943. Ottilie Schoenewald wanderte 1946 zu ihrer Adoptivtochter Doris in die USA aus, wo sie bis zu ihrem Tode 1961 lebte.
Erfolglos für Wiedergutmachung gestritten
Die Politikerin und Frauenrechtlerin arbeitete weiter an von ihr als wichtig erkannten Aufgaben, so durch Vorstandstätigkeiten in Vereinen jüdischer Exilanten wie der „Association of Jewish Refugees“ oder dem „International Council of Jewish Women“. Jahrelang hat sie als Opfer des Nationalsozialismus ihr Wiedergutmachungsverfahren in der Bundesrepublik Deutschland betrieben – letztlich erfolglos.
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Bericht über Bochumer Ereignisse der Vertreibung von Juden
Ottilie Schoenewald gilt heute als eine der profiliertesten Bochumer Persönlichkeiten, die sich im Politischen wie im Sozialen früh für die Rolle der Frau und deren Anerkennung stark machten. Dazu kommt ihre mutige Haltung gegenüber dem NS-Regime. Mit ihrem Bericht über die Bochumer Ereignisse angesichts der Deportation der „Ostjuden“ hat sie Geschichte geschrieben und so zur Erinnerung an den Holocaust beigetragen.
Die Aufzeichnungen gelten als die ausführlichsten über derartige Vertreibungen von Juden aus dem Deutschen Reich.