Bochum. Schnelle psychische Hilfe, Arbeitsplätze: Dass Bochum Standort des Zentrums für Psychische Gesundheit wird, bringt Vorteile, so die Koordinatorin.

Psychische Störungen betreffen in Deutschland mehr als ein Drittel aller Menschen pro Jahr. Um sie verstehen, vermeiden oder nachhaltig erfolgreich behandeln zu können, muss der Blick auf Lebensspannen und Lebenswelten gerichtet werden. Das macht das Forschungs- und Behandlungszentrum für psychische Gesundheit der Ruhr-Universität seit rund zehn Jahren. Seit Kurzem steht fest: Bochum wird Standort des Deutschen Zentrums für Psychische Gesundheit.Koordinatorin Prof. Silvia Schneider, Psychologin an der Ruhr-Universität Bochum, erzählt im Interview, was das für die Stadt bedeutet.

Frau Schneider, was könnte sich durch das Zentrum verändern?

Auch interessant

Die deutschen Gesundheitszentren sind eine einzigartige Einrichtung mit dem Ziel, die großen Volkskrankheiten zu erforschen und besser behandeln zu können. Wir sind hochmotiviert, uns für eine bessere und v. a. nachhaltige Behandlung von Menschen mit psychischen Störungen einzusetzen und die psychische Gesundheit von Geburt an zu fördern. Für Bochum bedeutet das Zentrum eine einzigartige Chance, sich national, aber auch international als Spitzenforschungsstandort zu profilieren. Schon jetzt suchen Kollegen aus anderen Ländern den Kontakt zu uns. Das Zentrum wird für Arbeitsplätze sorgen, einmal innerhalb unseres Zentrums. Aber es werden auch Nachbardisziplinen vom Zentrum profitieren und weitere Arbeitsplätze z. B. auch in Start-ups zu Gesundheitsthemen entstehen.

Hätten Sie erwartet, dass die Ruhr-Universität Standort des Zentrums wird?

Wir waren ganz klarer Außenseiter, weil die bisherigen Gesundheitszentren komplett in der Medizin verortet waren. Aber als die Ausschreibung öffentlich wurde, war klar, dass auch ein Antrag mit einem psychologischen Profil möglich war. Als wir die erste Runde geschafft hatten, wurden wir optimistischer. Denn wir wussten je nach Kriterium, das man anlegt, ist die Bochumer Fakultät für Psychologie die forschungsstärkste Psychologie in ganz Deutschland.

Inwiefern?

Wir können nun den dringend notwendigen Perspektivenwechsel in der Versorgung psychisch kranker Menschen auf den Weg bringen. Darüber freuen wir uns riesig. Es kann nicht sein, dass immer mehr Menschen aufgrund psychischer Probleme früher in Rente gehen und immer mehr Kinder in eine psychologische Behandlung müssen. Wir brauchen eine Forschung, die die Ursachen psychischer Störungen in den Blick nimmt und auf Gesundheitsforschung statt kurzfristigem Krankheitsfokus setzt. Psychologie und Psychotherapie bieten hier nachhaltige Strategien für diese Forschung und die Entwicklung nachhaltiger Interventionen.

Was ändert sich durch das Zentrum konkret für die Menschen in Bochum?

Auch interessant

Wir wollen die die neuesten Behandlungen schnellstmöglich den Menschen in Bochum und im Ruhrgebiet zugänglich machen. (...) Wir haben hier eine hohe Bereitschaft der Menschen an Forschung teilzunehmen – diese Solidarität, Forschung zu unterstützen ist einfach toll. Wir haben eine hohe Diversität der Bevölkerung, dies ist wichtig, damit unsere Forschungsergebnisse auf möglichst viele anwendbar sind. Umgekehrt können wir mit unserem Zentrum helfen, die neuesten Behandlungsfortschritte direkt der Bochumer Bevölkerung zur Verfügung zu stellen. In unseren Therapiestudien gibt es so gut wie keine Wartezeiten. Dabei haben wir sonst im Ruhrgebiet besonders lange Wartezeiten in der psychotherapeutischen Versorgung. Insgesamt ist es unser Ziel: „früh, ambulant und kosteneffizient“ zu intervenieren.

Prof. Silvia Schneider koordiniert den Verbund „LIFE TBT“ vom Forschungs- und Behandlungszentrum für psychische Gesundheit der Ruhr-Universität Bochum (RUB), der ein Standort des Deutschen Zentrums für Psychische Gesundheit ist.
Prof. Silvia Schneider koordiniert den Verbund „LIFE TBT“ vom Forschungs- und Behandlungszentrum für psychische Gesundheit der Ruhr-Universität Bochum (RUB), der ein Standort des Deutschen Zentrums für Psychische Gesundheit ist. © FUNKE Foto Services | Bastian Haumann

Wie kann das gelingen?

Zum Beispiel, indem wir Prävention in die Betriebe bringen, sodass man früher erkennt, wann Arbeitnehmer Hilfe brauchen. Nach dem Motto: minimal intervenieren in gestuftem Vorgehen. Wir wollen das Thema psychische Störung entstigmatisieren. Ähnlich bei einer Krebs- oder anderen Erkrankung darf man sagen: „Mir geht es nicht gut“. Das ist behandelbar. Jede zweite Familie in Deutschland ist betroffen, wir alle kennen Betroffene und tun so, als wenn uns das nicht angeht. Deshalb sind wir auch mitten in der Innenstadt, um zu zeigen, dass das Thema da ist.

Werden Sie da auch zukünftig bleiben?

Auch interessant

Das ist unser Wunsch. Aber es besteht schon jetzt große Raumnot. Bei uns gibt es mehrere Arbeitsgruppen, die kürzlich hinzugekommen sind und zusätzliche Räume brauchen. Wir möchten in der Innenstadt als „Zentrum für psychische Gesundheit“ sichtbar sein und für die Bochumer Bevölkerung niederschwellige Angebote machen. Ein Gesundheitscafé ist eine Idee oder das Möglichmachen der Teilnahme an kleinen Studien oder Forschungsprojekten. Eltern sollen uns niederschwellig fragen können: „Mein Kind hat diese Probleme. Was kann ich tun?“

Bochumer Verbund als Standort des Zentrums für Psychische Gesundheit

Der Bochumer Verbund „LIFE TBT“ steht für die gezielte Integration von Labor-, Interventions-, Feld- und Umweltforschung (englisch: Environment) mit systematischer Übersetzung in die Praxis (englisch: Translation-Backtranslation). Er hat sich erfolgreich als Standort des Deutschen Zentrums für Psychische Gesundheit beworben.

Das Zentrum für Psychische Gesundheit besteht neben der Ruhr-Universität aus fünf weiteren Standorten – die Berliner Charité, das Universitätsklinikum Jena, das Zentralinstitut für seelische Gesundheit Mannheim, die Ludwig-Maximilian-Universität München und die Universität Tübingen. Es ist auf Dauer angelegt und wird jährlich mit 30 Millionen Euro von Bund und Ländern gefördert.

Der Verbund „LIFE TBT“ setzt eine lange Tradition der Psychologie in Bochum fort: So gab es hier zum Beispiel die erste Psychotherapieambulanz an einem psychologischen Institut und den ersten Masterstudiengang in Klinischer Psychologie und Psychotherapie.

Kinder spielen bei Ihrer Arbeit eine große Rolle.

Psychische Gesundheit beginnt ab der ersten Zelle, wir wollen zukünftig schon ab der Schwangerschaft die Entwicklung von Kindern beobachten. Wir planen eine Geburtskohorte (Anm. d. Red. eine Gruppe von Personen, die im selben Zeitraum geboren wurden) aufzubauen. Gleichzeitig wollen wir mehrgenerationale Ansätze nutzen und Eltern und Großeltern mitbetrachten. Wir sind da sehr breit aufgestellt, in allen Teilbereichen der Psychologie von der Entwicklung- und Sozialpsychologie bis zur Biologischen Psychologie.

Seit dem 10. März ist bekannt, dass Bochum Standort des Zentrums wird. Wann geht es los?

Ruhr-Universität- Forscher will Blinden Sehen ermöglichenDer aktuelle Plan des Bundesministeriums für Bildung und Forschung sieht vor, dass spätestens im September die Konzeptentwicklungsphase beginnt – mit den anderen fünf Standorten Berlin, Jena, Mannheit, München, Tübingen. Es geht dann um ein Gesamtkonzept, bei dem erarbeitet wird welcher Standort welche Themen vertritt. Im Frühjahr 2022 schaut ein Gutachtergremium auf das Konzept. Die Gesamtkonstruktion kommt erst 2023, Geld soll aber schon 2022 fließen. Das Budget sind 30 Millionen Euro pro Jahr über alle Zentren, damit kann man viel aufbauen.