Bochum. Jeder Fünfte leidet mindestens einmal unter Angststörungen. Die Behandlung sei effektiv, finde aber zu selten statt, so Psychologe Jürgen Margraf.
Jürgen Margraf (54) ist Professor für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Ruhr-Universität Bochum. Seit 2009 leitet er das Bochumer Forschungs- und Behandlungszentrum für psychische Gesundheit. Im September wurde Margraf mit dem Franz-Emanuel-Weinert-Preis von der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPS) ausgezeichnet – für seine Forschung zu Angst und ihrer Bewältigung. Im Interview erklärt er, woran Betroffene eine Angststörung erkennen und was Bochum für seine Forschung besonders macht.
Herr Margraf, während der Begriff Angststörung vor einigen Jahren noch kaum jemandem etwas sagte, hat man heute den Eindruck, dass immer mehr Menschen betroffen sind. Können Sie das bestätigen?
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Mehr Leute suchen eine Behandlung, das stimmt. In den USA ist es tatsächlich so, dass die Zahl der Betroffenen innerhalb von zwei Generationen drastisch gestiegen ist. Das ist in Europa nicht der Fall. Studien im deutsch- und englischsprachigen Raum zeigen, dass die Menschen öfter arbeitsunfähig sind, nicht aber, dass die Zahl der Betroffenen an sich gestiegen ist. In Deutschland leiden 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal in ihrem Leben unter einer Angststörung. Jetzt in diesem Moment sind rund 10 bis 12 Prozent betroffen, Frauen häufiger als Männer.
Das ist eine ganze Menge. Doch woran merke ich, dass ich betroffen bin?
Aus einer Angst wird eine Angststörung, wenn Folgendes zutrifft: Der Betroffene leidet unter der Angst, sie ist nicht kontrollierbar und führt zudem zu Einschränkungen im Alltag. Auch unangemessene Ängste, die zu lang oder zu stark sind, können auf eine Angststörung hindeuten. Während die Angst, öffentlich zu sprechen, jemanden, der das nie machen muss, nicht betrifft, kann das für jemand anderen problematisch werden. Das ist ähnlich wie die Angst vor Hunden: Führt die Angst, auf dem Weg zur Schule oder Arbeit einem Hund zu begegnen, dazu, dass wir nicht mehr dort hingehen, leiden wir darunter und sie schränkt uns ein.
Was passiert, wenn ich die Angststörung nicht behandeln lasse?
Eine Angststörung ist häufig der Anfang, es können Depressionen folgen, auch eine Alkohol- oder Tablettenabhängigkeit ist möglich. Wer zum Beispiel unter einer Panikstörung leidet, hat häufig Herzklopfen, Schwindel oder sogar Angst zu sterben. Angst, die die Betroffenen gar nicht als solche wahrnehmen. Diese Angstreaktion kann sich verselbstständigen und der Betroffene entwickelt ein Vermeidungsverhalten. Wenn man das direkt behandelt, spart man durch jeden Euro, den man für die Behandlung ausgibt, fünf andere Euros für eine spätere Behandlung.
Unheilvolle Entwicklung: Pillen statt Therapie bei Angststörungen
Zur Person: Jürgen Margraf
Jürgen Margraf studierte Psychologie, Soziologie und Physiologie in München, Brüssel, Kiel und Tübingen. Er war von 1999 bis 2010 Leiter des Institutes für Psychologie an der Universität Basel sowie Leiter der Abteilung Klinische Psychologie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Basel. Seit 2010 hat Margraf die Alexander-von-Humboldt-Professur für Klinische Psychologie und Psychotherapie inne und ist gemeinsam mit Prof. Silvia Schneider Leiter des Forschungs- und Behandlungszentrums für psychische Gesundheit an der Ruhr-Universität Bochum.
Von 2014 bis 2016 war er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Für seine wissenschaftlichen Verdienste wurde Jürgen Margraf vielfach ausgezeichnet und mit beträchtlichen Forschungsgeldern unterstützt, zuletzt mit dem Franz-Emanuel-Weinert-Preis im September dieses Jahres. Er lebt mit seiner Frau in Bochum-Ehrenfeld.
Wenn die Behandlung so effektiv ist, warum wird dann vergleichsweise wenig behandelt?
Die Behandlungsmethoden sind wunderbar und machbar. In Deutschland gibt es aber eine unheilvolle Entwicklung:Immer mehr greifen zum Rezeptblock und verabreichen Pillen. Das ist keine dauerhafte Lösung, nur eine vorübergehende Unterdrückung. Dabei lohnt sich eine direkte Behandlung. Ungefähr 80 Prozent der Betroffenen kann entscheidet geholfen werden. Das heißt nicht, dass diese nie mehr Angst haben – was aber auch nicht das Ziel ist. Eine gesunde Angst brauchen wir, zum Beispiel im Straßenverkehr. Aber es ist möglich, die dauerhafte, übertriebene Angst loszuwerden.
Wie sieht die Behandlung aus?
Es gibt die klassische Einzeltherapie, in der ein Betroffener mit einem Psychologen spricht. Die Erfolge sind gut, auch wenn die Behandlung häufig etwas zu lang ist – was häufig daran liegt, dass die Krankenkassen ja bezahlen. Genauso können auch Gruppen- und Großgruppentherapien sehr gut sein. Daran können über hundert Menschen teilnehmen. Wir haben im vergangenen Jahr 140 Betroffene zeitgleich gegen Flugangst therapiert, mit Erfolg.
Man merkt, dass Ihr Job für Sie nicht nur Beruf, sondern Berufung ist. Was begeistert Sie daran so sehr?
Das was ich mache, soll gesellschaftlich wichtig sein und an die Gesellschaft vermittelt werden. Ich bin klinischer Psychologe und Psychotherapeut. Das, was wir erforschen, soll auch angewandt werden. Mein Spruch, den ich dazu immer bringe, ist: „Wir klinischen Psychologen wollen die Welt nicht nur verstehen, wir wollen sie auch verbessern.“ Ich habe nicht mit diesem Ziel studiert, doch zu dem, was ich jetzt mache, bin ich gekommen, weil es sinnvoll ist und einen Nutzen hat.
Sie haben in unter anderem in Berlin, München, der Schweiz, Belgien und den USA gelebt und gearbeitet. Nun haben Sie sich vor zehn Jahren für Bochum entschieden. Wie kam es dazu?
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Hier sind die Forschung, klinisch nahe Praxis und Ausbildung unter einem Dach. 2010 wurde ich mit der Alexander-von-Humboldt-Professur ausgezeichnet, die mit fünf Millionen Euro für die Forschung dotiert ist. Kurz davor habe ich ein gutes Angebot von der Ruhr-Universität bekommen. Das Geld konnten wir als Anschubfinanzierung nutzen.
Bochumer Forschungs- und Behandlungszentrum: Infrastruktur, die Mittel generiert
Seitdem ist einiges passiert.
Wir haben innerhalb weniger Jahre große Ambulanzen für Kinder und Erwachsene so ausgebaut, dass wir heute über 2500 Patienten pro Jahr versorgen. Man leistet einen Beitrag zur Versorgung der Menschen, zum anderen ist es aber eine wunderbare Möglichkeit zu untersuchen. Mit unserem Zentrum haben wir es geschafft, eine Infrastruktur zu schaffen, die selbst Mittel generiert.
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Das klingt so, als wenn Sie noch etwas hier in Bochum bleiben?
Ja, ich bleibe auf jeden Fall hier. Die Bedingungen sind wirklich toll. Ich nenne immer das Beispiel einer Kollegin, die von einer der führenden Universitäten der Welt kommt, der Los-Angeles-Universität. Die sind klinisch wirklich weltspitze. Als sie unser Zentrum vor Kurzem besucht hat, wurde sie immer etwas stiller und sagte dann: „Oh, das gibt es in ganz Amerika nicht und das ist die Zukunft.“