Bochum. Isabelle Lidke ist Sternenkindfotografin – sie macht Bilder von totgeborenen Kindern. Damit will sie Eltern helfen und Tabus brechen.
Wie immer wird der Weg vom Parkplatz in die Klinik der schwerste sein. Auf dem Weg zum Einsatzort werden ihr dieselben Fragen durch den Kopf gehen: Finde ich die passenden Worte gegenüber den Eltern? Ist der Akku in der Kamera? Warum musste das Kind sterben? Das fragt sich Isabelle Lidke auch jetzt, als auf ihrem Handy ein Alarm aufblinkt.
Lena, ein kleines Mädchen, ist in der 35. Schwangerschaftswoche im Bauch ihrer Mutter verstorben. Sie wartet im Krankenhaus auf die Wehen. „Ich halte mich nun bereit“, sagt Lidke. Ein kleiner Koffer für den Einsatz ist schon gepackt: Armbänder, kleine Decken und Herzchen, Mützen und Söckchen sind darin. Lidke wird die Dinge darin nutzen, um Lena zu fotografieren. So emotional, grausam und hart die Situation auch ist – „Ich werde funktionieren“, weiß Lidke. Wie auch bei den dutzenden Einsätzen, die sie bisher für die Initiative „Dein Sternenkind“ gemacht hat.
Wenn die 28-Jährige heute zurückblickt, dann ist sie, froh, dass Hannah und Jana die ersten Sternchen waren, die sie vor mehr als drei Jahren fotografierte. „Eine Hebamme nahm mich in der Klinik in Empfang und führte mich zu den Zwillingen, die mit einer Decke zugedeckt waren“, erinnert sich Lidke, die durch eine Kollegin auf die Sternenkindfotografie aufmerksam wurde. Doch der Moment – das erste Mal ein totes Kind zu sehen – war für sie anders als erwartet. „Kein blutiges Horrorszenario in der Pathologie, sondern ein heller Raum, in dem die Kinder friedlich aussahen“, erinnert sie sich.
Fotos sind Trauerarbeit
Nicht immer ist das so gewesen. Maximilian war vermutlich schon länger im Mutterleib tot, als er auf die Welt kam. „Es war keine einfache Aufgabe, das Kind zu fotografieren, ohne die Eltern zu schockieren“, gibt Lidke zu. Auch wenn die Kinder in einer sehr frühen Schwangerschaftswoche geboren würden, veränderten sich ihre Körper schnell. Manche Eltern wollen dabei sein – Zuschauen oder mit auf das Bild – andere trifft Lidke nicht.
„Ich fotografiere im Reportagenstil, lasse die Eltern mit dem Kind so agieren, wie sie möchten“, erklärt Lidke. Keine Aufforderung in die Kamera zu schauen oder die Hand anders hinzulegen – sondern schmerzverzerrte Gesichter, Tränen und Leid. „Viele Eltern atmen in diesen Momenten nur, weil sie es müssen. Alles zieht wie ein Film an ihnen vorbei“, hat Lidke beobachtet. Oft bedeutet das, dass sie keine Erinnerungen sammeln. Hatte das Baby die Nase von Mama oder Papa? Welche Haarfarbe hatte es? „Die Fotos sind für die Eltern ein großes Stück Trauerarbeit“, ist sich Lidke daher sicher. Mit manchen Eltern hat sie gemeinsam Schlaflieder gesungen und geweint.
Kritik aus dem Umfeld
„Ich kann die Situation nicht ändern, aber vielleicht ein kleines Stück besser machen“, hofft sie. Wenn sie nach einem Einsatz nach Hause kommt, bearbeitet sie die Bilder sofort. „So kann ich auch selbst am besten damit abschließen“, erklärt die Fotografin, die hauptberuflich Hochzeitspaare, Schwangere und Neugeborene knipst.
Lidke verändert Farben, Kontrast und Sättigung – lässt die Kinder aber sonst so, wie sie sind. Manche Eltern, das weiß Lidke auch, werden den Umschlag, den sie nach ihrem Besuch zuschickt, niemals öffnen. Zu anderen Eltern hat sie bis heute Kontakt.
Sie hofft, mit ihrer Arbeit das Schweigen zu brechen. „Für viele Menschen ist das Thema ein Tabu. Nicht jeder muss Bilder von seinem Kind machen lassen, aber man sollte darüber sprechen“, findet Lidke. Das sieht nicht jeder in ihrem Umfeld so. „Wie kannst du nur?“, hat sie schon oft zu hören bekommen. „Der Großteil aber sagt: Ich könnte das nicht. Gut, dass du es machst“, so Lidke.
Denn die Einsatzzahlen nehmen rasant zu, manchmal sind es 20 Anfragen am Tag. In der Gemeinschaft der Sternenkindfotografen hat Lidke außerdem neue Freunde gefunden. Und noch etwas hat das Ehrenamt mit Lidke gemacht: Wenn ihre wenige Wochen alte Tochter nachts schreit, dann denkt sie immer wieder: Hauptsache du schreist. Hauptsache du schreist.