Bochum. . Luis’ Eltern wünschen sich ein Bild von ihrem Kind. Mehr Bilder werden sie auch nicht bekommen, denn der kleine Junge ist ein Sternenkind.
- Der Bochumer Fotograf Frank Winklmeier erfüllt Eltern verstorbener Kinder einen letzten Wunsch
- Der 56-Jährige fährt ins Krankenhaus und schießt mit seiner Kamera Erinnerungsbilder
- Er arbeitet wie 400 andere Fotografen auch ehrenamtlich für die Organisation „dein-Sternenkind“
Luis liegt mit geschlossenen Augen in den Armen seines Vaters. Sacht und beschützend hält er eine Hand über den Säugling. Das Zimmer ist schmucklos, die Wände so kahl und kalt wie die Stimmung. Auch wenn es so aussieht: Luis schläft nicht, er ist tot. Ein Sternenkind.
Frank Winklmeier steht in diesem Moment vor der Tür, er ist zuvor über die Kinderstation geirrt. Ein halbes Jahr lang hat der Bochumer auf seinen ersten Einsatz gewartet. „Was mache ich gleich?“, schießt es ihm durch den Kopf.
Mehr als 400 Fotografen engagieren sich
Der gelernte Fotokaufmann fotografiert seitdem er 15 ist, erst als freier Sportfotograf, dann nur noch in der knappen Freizeit Hallensport, Wassersport und Porträts. Ein totes Kind hat er zuvor noch nie fotografiert.
Es ist 4 Uhr morgens, der Alarm hat Frank Winklmeier (bekannt auch unter dem Pseudonym Bastian Lende) aus dem Schlaf gerissen. 37. Schwangerschaftswoche, baldige Totgeburt und die Anschrift des Krankenhauses – das waren die Infos, die er zuvor erhalten hat.
Ein Arbeitskollege hatte ihm beiläufig von der Initiative „dein-Sternenkind“ erzählt, bei der mehr als 400 Fotografen ehrenamtlich verstorbene Säuglinge fotografieren.
Termin dauert nur fünf Minuten
Zigtausende Male klickt das Smartphone oder die Kamera von Eltern bis ins Erwachsenenalter ihres Kindes. Alles halten sie fest, von den ersten Schritten über die strahlenden Augen neben der Geburtstagstorte bis hin zum mit Tomatensoße verschmierten Gesicht. Luis Eltern werden das nicht tun können.
Ein Foto wünschen sie sich trotzdem. Wenigstens eins.
Frank öffnet die Tür und steht mit seiner Kameratasche über der Schulter in dem lieblosen Zimmer. „Mach deinen Job!“, wiederholt er innerlich. Es muss schnell gehen. Er spricht den in Tränen aufgelösten Eltern sein Beileid aus und holt seine Kamera aus der Tasche.
20 Fotos auf der Speicherkarte
„Wenn ich durch den Sucher schaue, dann kommt der Fotograf in mir raus“, sagt er. Dann wolle er nur noch tolle Bilder liefern. Irgendwie schütze ihn das – vor zu großer Anteilnahme. „Ich gucke nicht, was ich fotografiere, sondern wie“, erzählt der 56-Jährige.
Nach nur fünf Minuten hat Frank das Krankenzimmer verlassen, mit 20 Fotos von Luis auf der Speicherkarte. „Länger kann ich den Eltern das nicht antun. Auch wenn das Foto bei der Trauerarbeit hilft, die Situation ist furchtbar. ,Legen Sie die Hände mal dort hin, nein doch lieber da’: Das hält keiner lange aus“, weiß Frank.
„Wie kannst du sowas nur fotografieren?“ haben ihn viele gefragt. Manche entsetzt, verständnislos, geekelt. „Die Freude und Dankbarkeit der Eltern überschatten alles. Das ist befriedigend“, sagt er und lächelt mild. „Ich sehe kein totes Kind vor mir, sondern etwas, das hübsch aussehen soll“, fügt er hinzu.
Mit den Fotos etwas Gutes tun
Manchmal versuche er das Bild mit einer Spielzeugrassel, einem Nuckeltuch oder einem Kuscheltier zu dekorieren. Was er nicht fotografieren würde? „Da kenne ich keine Tabus“, meint Frank. Auch Reportagefotografie in Krisengebieten oder großes Elend übten eine Anziehung auf ihn aus. „Hat nichts mit Voyeurismus zu tun“, stellt er klar. Im Gegenteil: „Mit Fotos kann man etwas Gutes tun. Wenn ich durch den Sucher gucke, dann komponiere ich das Bild. Du vergisst dein Umfeld, du machst das nicht für dich und den Betrachter.“
Zuhause setzt er sich an den Mac. „Ich muss drüber reden, das steckt sonst tief in mir drin“, gibt er zu. Aber: „Kontakt zu den Eltern will ich nicht mehr. Keine Einladung zur Geburt des zweiten Kindes oder so.“
Fotos sind eine Stütze im Trauerprozess
Er schicke die Bilder meist per Mail, kriege dann oft eine dankende Rückmeldung. Sie schreiben, welch wertvolle Stütze die Fotos im Trauerprozess seien. Vielleicht, weil für die Außenwelt das Kind im Mutterleib irgendwie noch gar nicht existiert hat. Weil es ein Zeugnis ist, dass sie Eltern sind, ein Beweis für die Liebe zum Kind. Nicht selten zweifeln Eltern nach dem Tod ihres Kindes dessen Existenz an.
Um das Bild von Luis setzt er einen schwarzen Bilderrahmen, kehrt die letzten bunten Farben des mit schwerer Traurigkeit gefüllten Krankenzimmers in ein schwarz-weiß Foto und fügt „Luis“ in der unteren Ecke ein. „Manche Fotos von Sternenkindern muss ich viel bearbeiten, Blut wegkaschieren. Echt bleiben soll es trotzdem.“
Mehr Gräber für Sternenkinder
Sternenkinder – so nannte man einst nur die Kinder, die vor, während oder nach der Geburt mit einem Gewicht von weniger als 500 Gramm versterben. Heute zählt man auch Kinder mit einem höheren Geburtsgewicht dazu. Seit 2013 hat man ihnen durch eine Änderung im Personenstandsrecht sogar eine Existenz als Mensch gegeben. Auch immer mehr Gemeinden bieten Gräber für Sternenkinder auf dem Friedhof an.
Wenige Monate später: Der Alarm auf Franks Handy tönt wie eine Sirene durch sein Schlafzimmer. Achtmal wöchentlich passiert das in etwa. Nicht wenige Alarme muss er auf Grund von Verfügbarkeit oder Distanz ablehnen. Von den 2500 bis 3000 Sternenkindern, die jährlich Abschied nehmen, bevor sie das Licht der Welt erblicken, werden mehr als 600 über die Initiative fotografiert.
Vier Alusärge in der Kühlkammer
Es ist morgens, kurz nach 6 Uhr, als Frank die Information des Krankenhauses erreicht. „Ich bin da, um das verstorbene Kind zu fotografieren“, sagt er. Verdutzte Augen blicken zurück. „Welches verstorbene Kind?“, fragt die Krankenschwester. „Darian“, entgegnet Frank. Im Krankenhaus weiß man nichts von einem toten Darian. In der Kühlkammer soll nachgeschaut werden.
In einem klinisch sauberen Zimmer stehen vier kleine Alusärge, jeder Säugling ist vorsichtig in ein Tuch eingewickelt. Frank muss schlucken. „Da stehst du früh morgens in der Kühlkammer, hast nur einen Kaffee getrunken und sollst ein totes Kind finden“, sagt er und zuckt mit den Schultern. Sein kurzes Haar ist bereits weiß-grau, seine kleinen Augen werden von sympathischen Falten umspielt. Kurze Zeit später wird Darian gefunden.
„Du gehörst nicht dazu“
„Das Krankenhauspersonal, die Eltern oder Angehörige können uns Fotografen kontaktieren“, erklärt er. Unerwünscht fühle man sich immer. „Du gehörst nicht dazu. Nicht zu der Familie, nicht zu den Trauernden“, sagt er. Frank gehört auch nicht zu Darian. Die Verwandtschaft hat ihn arrangiert. „Alles ist furchtbar traurig und kaum auszuhalten. Aber ich kann Menschen glücklich machen und das trotzdem mit dem Tod verbinden.“
Darian liegt in einem kleinen Körbchen, Frank legt eine Blume und ein Kuscheltier dazu. Es sind nur zwei Minuten, aber für die Bilder gibt es keine zweite Chance. Dann geht Frank. Mit Verspätung fährt er direkt zur Zentrale seines Arbeitgebers, ein großer Kamerahersteller, der ihm bei den Einsätzen den Rücken frei hält.
Eine Generation ohne gedruckte Bilder
Manchmal gingen ihm die Bilder der toten Kinder durch den Kopf. „Es wächst eine Generation ohne Bilder heran. Ohne gedruckte jedenfalls.“ Das habe er irgendwo gelesen und für richtig befunden. „Weiß ich 2050 das Cloud-Passwort noch oder gibt es bestimmte Technologien noch?“, fragt er. Gedruckt sei schon etwas Anderes. Keine Internetforen, keine Selbsthilfegruppe, sondern etwas Fassbares.
So könnten die Eltern auch etwas im Arm halten. Nicht das Kind, aber die Erinnerung daran.