Bergkamen. . Ehrenamtliche Sternen-Fotografen machen Bilder von verstorbenen Säuglingen. Die Fotos können Eltern helfen, das Erlebte zu verarbeiten.
Das Wichtigste ist, dass das Baby gesund ist – dieser Satz ist allen werdenden Eltern schon durch den Kopf gegangen. Auch Jennifer Wessolek und David Dahlke. Sohn Louis ist im September geboren und es geht ihm zum Glück ganz wunderbar. Zufrieden glucksend liegt er auf Papas Bauch, nuckelt am Fläschchen. Keine Selbstverständlichkeit – wie die kleine Familie aus Bergkamen schmerzhaft erfahren musste.
Denn wenn die junge Mutter auf die Schwangerschaft zurückblickt, gab es nur diesen einen Gedanken: „Ich hatte sehr viel Angst, dass sein Herz stehen bleibt“, sagt die 24-Jährige. „Wirklich freuen konnte ich mich erst, als ich ihn im Arm hatte.“
Hintergrund der großen Sorge: Im November 2017 war Baby Milan tot auf die Welt gekommen. Sein Herz hatte noch im Bauch aufgehört zu schlagen. Milan ist ein Sternenkind.
Für die jungen Eltern kam das völlig unerwartet. Alles war vorbereitet: Bettchen, Kinderwagen, süße Strampler. „Erst habe ich dem Arzt nicht geglaubt“, erinnert sich Jennifer Wessolek. Also suchte dieser erneut nach einem Herzschlag. „Aber da war nichts.“ Einen Tag später wurde die Totgeburt eingeleitet.
Auch Bo Poomsean erinnert sich noch ganz genau. Damals hatte die Fotografin ihren ersten Einsatz für „Dein Sternenkind“. Das ist ein Zusammenschluss ehrenamtlicher Fotografen. Sie fahren zu Familien, deren Kind vor oder nach der Geburt gestorben ist, und machen Fotos – kostenlos. Bo Poomsean war an diesem Tag im Krankenhaus, um Milan zu fotografieren.
„Wenn man wieder fühlt, dann will man sich erinnern.“
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„Ich war sehr nervös“, erinnert sich die 38-Jährige. Sie wusste nicht, was genau sie erwarten würde. Nur, dass sie ein lebloses Baby fotografieren soll. So, dass es schön aussieht, würdevoll. „Ich möchte den Eltern ihre letzte Erinnerung schenken“, sagt die Dortmunderin. Im Schock würden viele die Gedanken an ihr Kind verdrängen. Doch Bo Poomsean weiß: „Wenn man wieder fühlt, dann will man sich erinnern.“ An die Fingerchen, die genaue Haarfarbe, die Form des Mundes. Diese Details und die besonderen Momente der Liebe und des Glücks, „die versuche ich einzufangen“.
Als Bo Poomsean an diesem Novembertag das Krankenhauszimmer betrat, hat sie Jennifer direkt umarmt. „Das weiß ich noch“, sagt die junge Mutter heute und es klingt aufrichtig dankbar. „David habe ich nur die Hand gegeben“, fährt die Fotografin fort und Jennifer muss lachen. Bo Poomsean lässt sich auf jede Familie neu ein, reagiert intuitiv, passt sich an. Sie weiß: „Jeder verhält sich in so einer Situation anders.“
Als würde er schlafen
Auch Ben war an dem Tag im Krankenhaus. Der Vierjährige ist das erste Kind von Jennifer und David. Er möchte oft die Bilder seines Bruders anschauen, sagt Jennifer Wessolek. Augenblicke, die für die Familie traurig und schön zugleich sind.
Auf den Fotos sieht es so aus, „als würde Milan schlafen“. So beschreibt es sein Vater David. Milans Augen sind geschlossen, seine Lippen liegen ganz friedlich aufeinander. Auf manchen Fotos ist er in eine kleine Decke eingewickelt. Der 23-jährige Vater trägt die Erinnerungen im Smartphone immer bei sich.
„Milan gehört dazu“, sagt Jennifer Wessolek. Und das sieht man auch in der Wohnung. Seine Fotos umrahmen eine Wanduhr, die leise die Sekunden zählt. Neben dem Sofa, wo Louis auf Papas Bauch mittlerweile entspannt eingeschlafen ist, stehen auf der Kommode Bilder, eine Kerze und ein Gedenkstein. Darauf sind Milans Geburts- und Todestag eingraviert – irritierenderweise in umgekehrter Reihenfolge: Der Tag des Todes liegt vor dem seiner Geburt.
Fotos helfen die Erfahrung zu verarbeiten
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Diese Erinnerungen an ihren Sohn helfen den Eltern, die Erfahrung zu verarbeiten. Zeit zu trauern hatten die beiden kaum. Denn wenige Monate nach diesem schrecklichen Erlebnis war Jennifer Wessolek wieder schwanger. Zitternd stand sie im Badezimmer, den positiven Test in den Händen. „Ich wusste erst gar nicht, wie ich damit umgehen soll.“
Fünfmal täglich kontrollierte sie mit einem Apparat Louis’ Herzschlag in ihrem Bauch. Früher als vorgesehen ging’s in den Kreißsaal – die Sorgen waren einfach zu übermächtig. Bis sie sich in Freude aufgelöst haben. Auch für Bo Poomsean ist es schön, die Familie glücklich zu sehen. Heute macht sie das erste Foto, auf dem Louis lächelt.
>> FOTOGRAFEN SCHAFFEN ERINNERUNGEN
Wenn auf Bo Poomseans Smartphone der Signalton erklingt, erwartet sie eine schwierige Aufgabe. Seit einem Jahr ist die gelernte Krankenschwester für „Dein Sternenkind“ im Einsatz. Eltern, deren Baby nicht lebensfähig ist, können ehrenamtliche Fotografen über www.dein-sternenkind.eu finden.
„Warum müssen Menschen etwas so Unfassbares erleben?“ Diese Frage stellt sich Bo Poomsean bis heute. Sie weiß, dass viele Eltern die Verantwortung bei sich suchen. Haben sie etwas falsch gemacht, sich schlecht ernährt oder ein falsches Medikament eingenommen? Antworten haben auch die Sternen-Fotografen natürlich nicht. Aber sie können Erinnerungen schaffen.
„Es tut mir gut zu wissen, dass ich einen Teil zur Trauerbewältigung beitragen kann“, sagt Bo Poomsean. Sie selbst sei durch ihre ehrenamtliche Tätigkeit zufriedener und ruhiger geworden. „Ich bin sehr dankbar, dass ich zwei gesunde Kinder habe.“
Dennoch sei diese Aufgabe auch für sie sehr belastend. Manchmal lässt sie Tage verstreichen, bevor sie die Fotos bearbeitet. „Ich kann sie nicht sofort ansehen.“
Die Sternen-Fotografen tauschen ihre Erfahrungen aus, geben einander Ratschläge, können psychologische Betreuung in Anspruch nehmen. Bo Poomsean hat einen eigenen Weg gefunden, mit ihrer Trauer umzugehen. Wenn eines ihrer Sternchen beerdigt wird, zündet sie zu Hause eine Kerze an. „Das ist mein persönlicher Abschied.“
Mit ihren Söhnen spricht sie darüber, dass der Tod zum Leben gehört – und manchmal viel früher kommt als erwartet. „Die Eltern behalten ihre Kinder immer im Herzen“, sagt sie dann. Doch manche Erinnerung soll eben auf gar keinen Fall verblassen. Und für die Sternchen-Bilder gibt es keine zweite Chance.