Bochum. . Der Nokia-Konzern stieß 2300 Beschäftigen vor den Kopf. Trotz Massenprotesten konnte die Schließung in Bochum 2008 nicht verhindert werden.
Ein Schrotthaufen ganz besonderer Art wuchs in den Wochen nach der am 15. Januar eiskalt angekündigten Schließung des Bochumer Nokia-Werks. Zerstörte Nokia-Handys jeder Art und jeden Alters stapelten sich dort neben dem Werkstor. Manche reisten von weither an, um in diesen bitteren Januartagen 2008 ihr Handy knirschend unter dem Schuh zu zertreten.
Sie zertraten die Handys, wie der damalige Weltmarktführer für Mobiltelefonie die Zukunft von mehr als 2300 Mitarbeitern, die meisten davon Frauen, mit Füßen getreten hat. Mehr als zehn Jahre sind seitdem vergangen. Der Blick geht zurück.
Ehemalige Betriebsratsvorsitzende erinnert sich
Die Gefühle und Erinnerungen von Gisela Achenbach, der damaligen Betriebsratsvorsitzenden, die binnen weniger Tage zum Gesicht des immer verzweifelteren Widerstands gegen den finnischen Elektronikkonzern wurde, helfen bei diesem Rückblick.
Die 68-Jährige steht an einem milden Oktobertag vor dem früheren Werkstor in der Meesmannstraße. Wer mit blinzelndem Auge schaut, wähnt sich in einer Zeitschleife. Die Gebäude stehen noch. Das Nokia-Blau prangt, wie frisch getüncht, an den Fassaden. Der große Parkplatz heißt immer noch „Risto-Mäkinen-Platz“, benannt nach dem ehemaligen Deutschland-Geschäftsführer von Nokia.
WAZ titelte damals: „Entsetzen über Nokia“
Die WAZ titelte am 16. Januar, dem Tag eins nach der Schreckensmeldung, „Entsetzen über Nokia“ und weiter im Innern „Endstation Nokia“. Gisela Achenbach hat häufig gesprochen über dieses Entsetzen, diese Gewissheit, in einem Hochgeschwindigkeits-Zug zu sitzen, der gerade brutal abgebremst wird. Endstation eben.
Wie sie an jenem Januar nach Düsseldorf zur Aufsichtsratssitzung gefahren sei. Aus dem vorgeblichen Routine-Treffen wurde ein Horrortrip. Schon auf der Fahrt im Auto rief ein Reporter: „Was sagen Sie zur Werksschließung?“, habe der gefragt. „Als Betriebsratsvorsitzende und Aufsichtsratsmitglied hätte ich eigentlich was wissen müssen. Doch ich wusste nichts, war total ahnungslos.“
Jeder Tag bis zur Schließung sollte Nokia wehtun
Das Nokia-Management hatte alles exakt durchgeplant. Bis kurz vor Heiligabend hatten die Beschäftigten noch Sonderschichten gefahren, um das Weihnachtsgeschäft mit schönen neuen Handys, made in Bochum, zu beflügeln. Offenbar waren die Finnen davon ausgegangen, dass die Bochumer Belegschaft nach der Schreckensbotschaft erst gar nicht mehr die Arbeit aufnimmt und in einen wilden Streik treten würde.
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„Den Gefallen haben wir denen nicht getan“, erinnert sich Gisela Achenbach. Mit der IG Metall stimmte der Betriebsrat eine Strategie ganz anderer Art ab. „Wir gehen arbeiten!“, pflanzte sich der Ruf von Abteilung zu Abteilung fort. Und genau das taten sie. Jeder Tag sollte Nokia wehtun, den vorgeblichen Schließungsgrund, das Werk sei nicht produktiv genug, galt es zu konterkarieren.
Die nächsten Wochen, vor allem der Januar und der Februar, lieferten beinahe täglich neue Bilder, neue Nachrichten. Nachrichten, über die sich der Weltkonzern nicht freuen konnte. Schnell und leise hätten sie die im Konzernmaßstab kleine Fabrik am liebsten von der Landkarte gestrichen. Doch den Gefallen tat ihnen Bochum nicht.
Werksschließung erhält europaweit große Aufmerksamkeit
Journalisten, Fernsehteams aus halb Europa reisten an die Meesmannstraße. Solidaritätsadressen, die mehr waren als Lippenbekenntnisse, gingen beinahe täglich ein. Geschäftsleute aus der Umgebung spendeten Lebensmittel für die Posten, die oft auch nachts aushielten vor dem Werkstor.
Als eine der ersten Belegschaftsdelegationen kamen die Opelaner. Die, was sie damals kaum ahnten, sechs Jahre später ein ganz ähnliches Schicksal erwartete. „Dies alles hat uns viel Kraft gegeben“, so sagt Gisela Achenbach heute.
2008: Nokia-Werk wird geschlossen
Es schaltete sich die Landesregierung unter Jürgen Rüttgers (CDU) ein. Hannelore Kraft als SPD-Landeschefin kam hinzu. Minister zeigten sich vor Ort und redeten. Als schließlich noch mehrere Großdemonstrationen, Lichterketten und Sternmärsche folgten mit in der Spitze mehr als 15.000 Teilnehmern, kamen die Finnen wohl doch noch ins Nachdenken.
Ende Januar fertigte Nokia die damalige Bochumer IG Metall-Bevollmächtigte Ulrike Kleinebrahm und Gisela Achenbach in Helsinki kühl ab. Aber die beiden selbstbewussten Frauen kehrten ungebrochen nach Bochum zurück.
Sozialplan: Im Schnitt 90.000 Euro pro Person
Am Ende gelang es zwar nicht, das Werk doch noch zu retten. Für die Belegschaft holten sie allerdings das Optimale heraus. Hauptgrund dafür neben dem öffentlichen Druck waren die rund 88 Millionen Euro an Fördergeldern, die in den Standort geflossen waren. Schließlich wurde ein Sozialplan mit einem Volumen von 200 Millionen Euro ausgehandelt, einer der besten, die bis dato in Deutschland erzielt wurden. Im Schnitt 90.000 Euro pro Person.
Schließlich erwirtschaftete allein das Bochumer Werk dicke Gewinne, angeblich 137 Millionen im Jahr 2007. Der Konzern widersprach dieser Zahl. Noch 2008 nahm Nokia in einem eilig aus dem Boden gestampften Werk im rumänischen Cluj die Produktion auf. Doch nur für drei Jahre. Auch hier hatte es für die Ansiedlung wieder reichlich Fördergelder gegeben.
>> Multimedia-Chronik: Bochum von 1948 bis 2018
Dieser Artikel ist Teil der Serie „70 Jahre WAZ – 70 Jahre Bochum“. Der Zeitstrahl Bochum70.waz.de bietet zu Nachrichten und Ereignissen, die für Bochum(er) zwischen 1948 und 2018 wichtig waren, historische Filmaufnahmen, Fotos und alte WAZ-Zeitungsseiten zum Durchblättern. Auf der Seite können Sie auch eigene Bochumer Stadtgeschichten und Fotos hochladen. Das erste Jahresthema der Multimedia-Chronik: die Gründung der WAZ in Bochum im Jahr 1948.