Essen. Am 1. Oktober startet Tusem Essen in die Handball-Bundesliga. Der neue Trainer Jamal Naji spricht über Ziele, Psychologie - und Dirk Nowitzki.

Er hat aufgeräumt: Als Jamal Naji zum ersten Mal die Trainingshalle des Handball-Bundesligisten Tusem Essen betrat, herrschte im Aufenthaltsbereich von Trainer und Mannschaft ein geordnetes Chaos. Trainingsutensilien, das Physiotherapeuten-Equipment und Kraftmaschinen standen wild durcheinander. Der neue Trainer rief sein Team zur Aufräumstunde zusammen. „Ich bin ein Ordnungsfanatiker“, sagt der 33-jährige Naji, der nun auch mit mannschaftlicher Geschlossenheit den Klassenerhalt in der stärksten Handball-Liga schaffen will, die am 1. Oktober mit einem Heimspiel des Aufsteigers gegen FrischAuf Göppingen beginnt.

Herr Naji, wir stehen gerade in der Trainingshalle des Tusem. Sie erinnert eher an eine Schulsporthalle als an die Heimat eines Handball-Bundesligisten. Waren Sie überrascht, als Sie hier im Juli Ihren Dienst antraten?
Jamal Naji: Die Halle kenne ich ja schon sehr lange. Ich war als Jugendspieler mit der Mittelrhein-Auswahl Anfang der 2000er Jahre zum ersten Mal hier, und hier habe ich auch zwei Jahre in der westdeutschen Auswahl meines Jahrgangs gespielt, hier hatten wir immer die Lehrgänge. Auch mein erster Lehrgang der deutschen Jugend-Nationalmannschaft fand damals in dieser Halle statt. Ist lange her – aber es hat sich nicht viel verändert. Nur der Boden wurde mal erneuert (lacht). Logisch, es gibt modernere Trainingszentren, aber hier ist es irgendwie urig, es ist alt, aber es hat schon seinen Charme, hier zu trainieren. Ich fühle mich hier wohl.

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Wie läuft die Vorbereitung?
Jamal Naji: Gut, es ist schon sehr anstrengend, anfangs haben wir viel im athletischen Bereich gearbeitet, aber ich muss sagen, dass mir in Sachen Fitness der Spieler ein gut bestelltes Feld hinterlassen wurde. Aber den Status Quo müssen wir mindestens erhalten und jetzt sind wir im taktischen Feinschliff, arbeiten an Abwehr- und Angriffsformationen. Zufrieden bin ich noch nicht, aber dass das nicht von jetzt auf gleich funktioniert, ist klar. Das braucht alles ein bisschen Zeit.

Worauf freuen Sie sich besonders, wenn es bald losgeht?
Jamal Naji:
Dass es endlich losgeht, ganz klar. Diese ganze Corona-Pandemie lässt einen ja ein bisschen im Ungewissen, deshalb freue ich mich einfach darauf, mit der Mannschaft zu spielen. Und ich hoffe, dass wir das hoffentlich auch irgendwann in unserer Halle vor vollen Rängen tun können.

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Dann kommen Teams wie den THW Kiel, die SG Flensburg-Handewitt und die Rhein-Neckar Löwen. Handball-Großmächte. Macht das auch Angst?
Jamal Naji: Nein, ganz im Gegenteil. Das ist auch ein zentraler Punkt, den ich mit den Spielern kommuniziere: Angst wäre der völlig falsche Ratgeber. Die Bundesliga ist ein ganz großes Abenteuer für uns alle. Für mich als Trainer und für die Spieler sowieso. Sie haben sich die erste Liga durch ihre sehr gute vergangene Saison erarbeitet. Und davon abgesehen: Die Spieler sind ja keine Träumer, sie wissen auch, dass es schwierig wird. Alles, was wir an Bundesligaluft schnappen können gegen Teams wie Kiel, Flensburg, die Löwen oder Magdeburg - das sind Erfahrungen, die uns allen keiner mehr nehmen kann. Es wäre ja schade, wenn man mit Angst benebelt in solche Spiele geht und dies die Erinnerungen an solch tolle Events verschleiern würde. Wir gehen mit Respekt an die Sache und wollen alles maximal genießen. Das hat sich der Tusem verdient.

Jamal Naji (r.) im Gespräch mit Redakteur Björn Goldmann.
Jamal Naji (r.) im Gespräch mit Redakteur Björn Goldmann.

Es ist noch nicht lange her, da waren Sie Jugend-Koordinator bei Bayer Dormagen. Nun sind Sie plötzlich Bundesligatrainer. Müssen Sie sich manchmal noch kneifen angesichts dieses unglaublichen Karrieresprungs?
Jamal Naji:
Zumindest war es nicht meine Vision, den Sprung von den A-Jugendlichen in die 1. Liga zu nehmen. Ich hatte mir eher die 2. Liga als nächstes Ziel gesetzt. Zu dem Zeitpunkt, als der Tusem und ich uns einig wurden, war der Tusem aber gerade Vierter oder Fünfter. Mit der ersten Liga hatte ich mich tatsächlich gar nicht beschäftigt (lacht). Jetzt ist es so gekommen, und ich finde es toll, dass ich als junger Trainer eine solche Chance bekomme, mit den großen Fischen mitzuschwimmen. Und ich hoffe, wir können uns in der Bundesliga gut verkaufen.

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Ein gutes Stichwort. Sie stehen vor einer Mammutaufgabe: Es wird in dieser Bundesligasaison vier Absteiger geben. Ist der Klassenerhalt nicht sogar ein hoffnungsloses Unterfangen?
Jamal Naji: Nein, da wäre ich auch der falsche Mann, wenn ich mit dem Gedanken an ein hoffnungsloses Unterfangen in die Saison gehe. Ja, keiner setzt einen Pfifferling auf uns. Wir werden mit Abstand die jüngste Mannschaft der Liga haben, haben wohl auch den kleinsten Etat, ohne den der anderen Teams im Detail zu kennen. Es wäre schon brutal schwer mit nur zwei Absteigern, mit vieren wird es noch schwieriger und bei Wettanbietern stehen wir wohl nicht sehr hoch im Kurs. Aber die Mannschaft ist brutal hungrig und wir werden sehen, wie schnell sich alle an das Niveau gewöhnen. Der Klassenerhalt wäre eine absolute Sensation. Aber das ist erst mal unsere Intention: groß zu denken. Wir können alles schaffen!

Wie wichtig ist in diesem Zusammenhang neben den sportlichen Aspekten die Psychologie? Der Tusem wird ein starkes Nervenkostüm brauchen, es wird sicher größere Durststrecken geben…
Jamal Naji: Die ist sehr, sehr wichtig. Mindestens genauso wichtig wie die sportlichen und taktischen Details. Ich bin aber nach nun fast drei gemeinsamen Monaten sehr guter Dinge, was das angeht, auch wenn wir viele junge Spieler haben. Wir haben gute Charaktere in der Mannschaft, klare Köpfe. Wir haben auch ein paar Jungs, die Führungspersönlichkeiten sind. Zumal der Glaube an die eigenen Fähigkeiten ja nicht nur extern vom Trainer kommuniziert, sondern auch aus der Mannschaft selbst kommen muss. Wie gesagt, da bin ich aber guter Dinge, zumal ich mit Michael Hegemann einen Co-Trainer habe, der im Profi-Handball eigentlich alles erlebt hat. Er ist einer, von dem wir alle, auch ich, enorm profitieren werden.

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Es mag sich etwas komisch anhören, aber ist die Corona-Zeit vielleicht auch eine Chance für den Tusem, weil auch andere Teams mit den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu kämpfen haben, und vielleicht nicht alle auf der Höhe Ihrer Schaffenskraft sind?
Jamal Naji: Ich tu mich etwas schwer, das als Chance zu titulieren, auch wenn ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Ich hoffe ja nicht, dass wir eine Chance haben zu bestehen, weil andere versagen. Das Ziel sollte sein, dass wir bestehen, weil wir gut sind oder weil wir uns besser entwickeln als andere. Diese Pandemie bringt aber sicher viele Dinge mit, die nicht vorhersehbar sind. So würde ich es eher formulieren.

Wie stark schätzen Sie denn Ihr Team ein?
Jamal Naji: Wenn man unser Potenzial und den Ist-Zustand gegenüberstellt, gibt es da schon einen Unterschied. Viele dieser Spieler haben ein sehr großes Potenzial und einige werden in einigen Jahren fester Bestandteil der ersten Liga sein, hoffentlich dann auch beim Tusem. Allerdings sind wir noch jung und noch nicht so weit wie andere Teams. Da müssen wir erst noch hinwachsen, und es wird ein steiniger Weg. Ich glaube aber nicht, dass wir das Team mit dem geringsten Potenzial der Liga sind. Es geht nun einfach darum, wie schnell wir uns dem maximalen Potenzial annähern können.

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Wie groß ist der Unterschied denn für Sie als Trainer, wenn Sie nun nicht länger Jugendliche, sondern ein Männerteam trainieren?Jamal Naji: In der Führung ist das schon ein Unterschied. Weil es keine 17-, 18-Jährigen mehr sind, sondern erwachsene Menschen, von denen viele auch schon eine Vision von ihrem zukünftigen Leben haben. Das macht es für mich als Trainer einfacher. Taktisch ist es schon komplexer, da muss man ein viel größeres Handwerkzeug an taktischen Mitteln einbringen. Da ich aber sehr affin bin, was das angeht, ist das auch eine Sache, die mir sehr viel Spaß macht.

Stimmt es, dass Sie auch den US-Sport rege verfolgen?
Jamal Naji:
Ja, vor allem die Basketball-Liga NBA, aber auch American Football. Die Affinität zur NBA kam über Dirk Nowitzki, der ist eines meiner größten sportlichen Vorbilder, ich finde ihn einfach großartig. Irgendwann habe ich die Spiele dann nicht mehr mit dem Sportlerauge gesehen, sondern aus Trainersicht. Warum machen Trainer gerade dieses oder jenes? Und dann finde ich die ganzen Statistiken, die im US-Sport geführt werden, total interessant. Da gibt es ja für alles eine Statistik, das ist Wahnsinn. Ich glaube, dass wir uns in der Bedeutung von Statistiken auch in Deutschland annähern werden. Nehmen wir als Beispiel Daniel Theis von den Boston Celtics.

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Den deutschen Nationalspieler aus Salzgitter.
Jamal Naji: Genau. Würde man wie hier in Deutschland nur auf die gängigen Statistiken gucken, wäre er ein Mitläufer, was Punkte und Rebounds angeht. Aber die speziellen NBA-Statistiken zeigen auch, wie unglaublich wichtig dieser Mann abseits des Balls ist durch seine Blöcke und sein Stellungsspiel. Deshalb bekommt er auch seine Spielminuten, weil er einen unglaublichen Wert für diese Mannschaft hat. Wir sind im deutschen Handball derzeit gar nicht in der Lage, den Wert eines solchen Spielers festzuhalten. So einen Spieler haben wir auch in Malte Seidel. Er ist keiner, der den Mittelpunkt sucht, der aber eine unheimliche Wertigkeit für die Mannschaft hat, weil er in der Defensive ein so intelligenter, spielstarker Junge ist. Das sieht man in einer einfachen Statistik so nicht, da stehen dann am Ende vielleicht null Tore. Dass er uns aber elf verteidigt hat – das steht da nicht.

Sie sind erst 33 Jahre alt, werden aber trotzdem nicht der jüngste Trainer in der Bundesliga sein. Das ist Ihr Vorgänger, der 26-jährige Jaron Siewert, der nun die Füchse Berlin trainiert. Haben Sie Kontakt?
Jamal Naji:
Wir haben uns sehr viel ausgetauscht, das hatte er mir auch angeboten. Allerdings ging es mir nicht um seine Einschätzung der Spieler, weil ich da wirklich unvoreingenommen reingehen wollte. Aber er war sehr hilfsbereit, trotz seiner fordernden Aufgabe in Berlin. Jaron ist einfach ein guter Typ.