London. . China und die Glaubwürdigkeit seiner Medaillen, das ist seit zwei Jahrzehnten ein Top-Thema. Diesmal entzündet sich bei den Olympischen Spielen die Diskussion an den Leistungen der 16-jährigen Schwimmerin Ye Shiwen.
Es ist eine Sensation passiert bei diesen Olympischen Spielen. Von Montagnacht bis Dienstagnachmittag, man glaubt es kaum, blieb China ohne Olympiamedaille. Zuvor aber hatte die Delegation aus dem Reich der Mitte, die mit 396 Sportlern nur unwesentlich größer ist als die Abordnung des Deutschen Olympischen Sport-Bundes (392 Athleten), nahezu im Stundentakt Medaillen produziert. Das wird sich bis zum Ende der Spiele nicht ändern. Alles andere als Rang eins in der Nationenwertung, wie schon 2008 bei den Heimspielen in Peking, ist undenkbar. Im Plan der Chinesen soll es Rang eins sein, sowohl in der Anzahl der goldenen Plaketten als auch der Gesamtmedaillen.
Neun Gold-, fünf Silber-, und drei Bronzemedaillen hatte China also bis Dienstagnachmittag angehäuft, bevor wieder die Wunderschwimmerin Ye Shiwen ins Wasser sprang. China und die Glaubwürdigkeit seiner Medaillen, das ist seit zwei Jahrzehnten ein Top-Thema. Diesmal entzündet sich die Diskussion an den Leistungen der 16-jährigen Ye Shiwen, die auf den letzten Bahnen über 400 Meter Lagen jeweils schneller war als Ryan Lochte und Michael Phelps. Das war tagelang ein beherrschendes Thema in den britischen Medien, die sich intensiv mit der Frage beschäftigten, ob Ye Shiwens wundersame Leistungen auf Doping zurückzuführen sind.
IOC-Medizinchef Arne Ljungqvist als Verteidiger
Als Zeugen der Anklage präsentierten sie den US-Amerikaner John Leonard, Generalsekretär der Schwimmtrainer-Vereinigung ASCA. „Unmöglich“ seien die letzten Bahnen von Ye Shiwen, „unglaubwürdig“ und „beunruhigend“, sagte Leonard, der Doping in anderen Ländern seit vielen Jahren kritisiert. Leonard erinnert das an gedopte DDR-Schwimmerinnen und die Doperin Michelle Smith aus Irland, die sich 1996 in Atlanta, trainiert von ihrem wegen Dopings gesperrten Mann Erik de Bruijn (ein holländischer Diskuswerfer), um teilweise eine halbe Minute verbesserte, drei Goldmedaillen ergaunerte – und leider erst zwei Jahre später erwischt wurde.
Als Zeugen der Verteidigung betätigten sich: IOC-Medizinchef Arne Ljungqvist aus Schweden, der sagt, er applaudiere grundsätzlich jedem Sportler, solange nicht eine positive Dopingprobe vorliege. Und Großbritanniens NOK-Chef Colin Moyniham: Der Lord, ehemals Sportminister und Olympiaruderer, erklärte, Ye Shiwen „ist eine außerordentliche Schwimmerin, wir sollten ihr Talent anerkennen“. Wer das Testprogramm der Weltantidopingagentur WADA durchlaufe, sei „sauber“. Alles andere seien „unbegründete Spekulationen, die mir nicht gefallen“.
Spekulationen gab es immer
Angeblich unbegründete Spekulationen gab es zu Chinas langem Marsch im Sport immer. Etwa 1993 bei der Leichtathletik-WM in Stuttgart, als die Chinesinnen alles in Grund und Boden rannten, oder 1994 bei der Schwimm-WM in Rom, als sie absahnten wie zuvor nur die gedopten DDR-Frauen, und als in jenen Jahren fast alle Weltrekorde purzelten. Auch da verschlossen Funktionäre und Journalisten die Augen. Der Spuk flog auf, spätestens 1994 bei den Asienspielen in Hiroshima, in wenigen Jahren wurden Dutzende Topathleten und ein staatlich sanktioniertes Dopingsystem enttarnt. Mitunter, wie 1998 zur Schwimm-WM in Perth, wurden die Chinesen schon bei der Ankunft mit Wachstumshormonen im Gepäck vom Zoll aus dem Verkehr gezogen.
China begann von vorn, mit einer neuen Generation, zehntausenden Kindern, in der Leichtathletik, im Schwimmen, und schickte einige Jahre nur kleine Abordnungen zu internationalen Höhepunkten. Im Lande konkurrieren die Provinzen mit ihren KP-Fürsten und hunderten Sportschulen um die Vormachtstellung.
Erste selbstkritische Worte über China und den Sport
„Natürlich sind wir keine Roboter“, hat Ye Shiwen gesagt, die gerade die Grenze zwischen den Geschlechtern aufhebt. Einer ihrer Weltmeister-Kolleginnen von Schanghai 2011, Li Zeshi, ist im diesem Frühjahr der Gebrauch des Blutdopingmittels Epo nachgewiesen worden. Eine andere Teamkollegin, Lu Ying, die Olympiazweite über 100 Meter Schmetterling, hat nun in London überrascht, als sie über ihren Trainingsaufenthalt in Australien berichtete. Da gehe es mit mehr Spaß und offener zur Sache, wogegen es in China nur heiße: „Trainieren, trainieren, trainieren.“ Lu Ying, eine attraktive 23-Jährige, reflektierte über den Sport und China, wie man es zuvor selten gehört hatte. Sie sprach von den Grenzen des Trainingsregimes und fragte sich selbst: „Trainierst du eigentlich für dich oder jemanden anderen?“
Dass man diese Frage nun von einer Chinesin auf einer olympischen Pressekonferenz hört, ist etwas Besonderes. Es ist ein kleines Zeichen. Gäbe es mehr davon, flankiert von nachprüfbaren, transparenten Informationen etwa über Antidopingmaßnahmen, würde das helfen, Misstrauen abzubauen. Dann ließe sich auch so ein olympischer Medaillenspiegel leichter konsumieren.