London. Vor dem Auftakt der Olympischen Spiele erwarteten Beobachter im Schwimmen vor allem ein Duell der US-Amerikaner Ryan Lochte und Michael Phelps. Doch in London ist alles anders gekommen, statt der beiden Amerikaner bestimmt ein Franzose die Wettbewerbe im Wasser.
Als Yannick Agnel im Aquatics Centre auf seine Siegerehrung, tippelte er unruhig mit seinen Füßen. Abwechselnd winkte er Teamkollegen zu und ballte die Faust. Der gerade erst 20 Jahre alt gewordene Franzose konnte es noch gar nicht fassen, dass er in wenigen Momenten die Goldmedaille für seinen Olympiasieg über 200 Meter Freistil erhalten würde. Und als dann zu seinen Ehren die Marseillaise gespielt würde, sang der junge Mann aus Nimes mit fast so viel Energie, wie er es kurz zuvor im olympischen Pool getan hatte. Wäre er Deutscher, die Hymnen-Kritiker unserer Fußball-Nationalmannschaft wären in Freudentränen ausgebrochen.
Der Franzose, der so jungenhaft aussieht, als ob er sich jeden Morgen noch mit dem Handtuch rasieren könnte, hatte das Rennen der Giganten, den Höhepunkt der Schwimm-Wettbewerbe, nicht nur gewonnen. Er hatte die anderen Superstars der Szene klar abgehängt und in neuer Weltjahresbestzeit von 1:43,14 Minuten angeschlagen. „Ich kann vor Yannick nur den Hut ziehen. Das war eine phantastische Leistung von ihm in einem großartigen Rennen“, sagte Paul Biedermann. Für den Doppel-Weltmeister von 2009 erfüllte sich der große Traum von einer Olympiamedaille nicht. Mit 1:45,53 Minuten steigerte er sich zwar noch einmal gegenüber dem Halbfinale, aber zum Sprung aufs Podium fehlten ihm sechs Zehntel Sekunden.
Gleich zweimal Silber
Silber wurde gleich zweimal vergeben, an die in 1:44,93 Minuten zeitgleichen Sun Yang aus China und dem Südkoreaner Taehwan Park. „Ich bin nicht zufrieden. Die Zeit war ein bisschen zu langsam“, sagte Biedermann, „wenn man nicht hundertprozentig fit ist, dann kann man in einem solchen Rennen schnell mal Fünfter werden. Damit muss ich jetzt umgehen, auch wenn es schwer ist.“
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Nur einen Platz vor Biedermann und damit auch nicht in den Medaillenrängen landete der US-Amerikaner Ryan Lochte. Nach seinem Triumph am Samstag über 400 Meter Lagen glaubte die „Times“ schon den Nachfolger von Michael Phelps gefunden zu haben und titelte: „The new Superstar is born“, der neue Superstar ist geboren.
Nicht Lochte ist der König des Pools, sondern ein Franzose
Aber da waren die englischen Reporter ein wenig voreilig, denn bis jetzt ist nicht Lochte der König des olympischen Pools, sondern Yannick Agnel. Bereits am Sonntag hatte er als Schlussschwimmer der französischen Freistilstaffel seinen US-Konkurrenten Lochte wie einen Anfänger aussehen lassen, als er gegen ihn mehr als eine Länge aufholte und so dem Quartett der Grande Nation das Gold bescherte.
Der schlaksige Agnel ist das Selbstbewusstsein in Person, ohne die Grenze zur Arroganz zu überschreiten. Schon vor dem Rennen gegen die besten Schwimmer der Welt, gegen Weltrekordler Biedermann sowie die Olympiasieger Sun, Park und Lochte, hatte er auf die Frage, ob er nicht nervös sei, spontan geantwortet: „Wieso? So ein Rennen ist doch aufregend. Ich kann den Start kaum erwarten.“
Agnel wirkt wie ein Hobbyschwimmer - bis er ins Becken springt
Im Gegensatz zu seinen muskelbepackten Rivalen Biedermann oder auch Lochte wirkt Agnel wie ein Hobbyschwimmer, aber wenn er in das Becken springt, zündet er den Turbo. „Natürlich musst du durchtrainiert sein, aber du musst deinen eigenen Weg finden, um perfekt durch das Wasser zu gleiten“, sagte Agnel vor dem Finale in einem Interview mit der Welt, „zu viele Muskeln können dich auch behindern. Du musst einfach die richtige Balance zwischen Kraft und Technik finden. Also meine Muskeln sind es jedenfalls nicht, die mich schnell machen. Ich bin in der Tat nicht allzu stark. Vielleicht ist es die Technik.“
Diese grandiose Technik, die für Schwimm-Ästheten ein Genuss ist, sich anzuschauen, will Agnel bereits am heutigen Dienstag wieder zur Geltung bringen. In der 4 mal 200 Meter Freistil trifft er mit seinen französischen Teamkollegen erneut auf Sun, Lochte und Biedermann. Sollte er am Abend wieder die Marseillaise singen, könnte nicht nur die Times dem neuen Superstar des Schwimmens eine dicke Schlagzeile widmen.