Gelsenkirchen. Zwei alte Haudegen blicken im WAZ-Weihnachtsinterview auf den Sport in Gelsenkirchen, auf den FC Schalke 04: Gerd Hemforth und Michael Zurhausen.

Das Jahr neigt sich dem Ende zu – und somit auch das des Gelsenkirchener Sports. Wie war’s? Was ist los in dieser angeblichen Sportstadt? Wir haben uns bei Pizza und Pasta mit zwei alten Sporthaudegen getroffen, die den Gelsenkirchener Sport seit vielen, vielen Jahren kennen und verfolgen: mit Gerd Hemforth, dem 68-jährigen Trainer der Oberliga-Volleyballerinnen des TC Gelsenkirchen, einstigen Leichtathleten und Sportlehrer, sowie mit Michael Zurhausen, dem 72-jährigen Chef des RC Olympia Buer, des kleinsten Vereins Deutschlands, und Macher der City-Nacht von Schaffrath.

Was hat Sie in diesem Jahr im Gelsenkirchener Sport begeistert?

Gerd Hemforth: Der Schalker Bundesliga-Aufstieg! Ich bin seit Kindertagen Schalker mit regelmäßigen Stadionbesuchen. Und das erfolgreiche Oberliga-Jahr meiner Volleyballerinnen.

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Michael Zurhausen: Mich hat begeistert, dass wir nach zwei Jahren Corona in Schaffrath wieder ein super Radrennen hatten – mit enorm vielen Zuschauern. Und dass wir zum Beispiel ein Tretroller-Rennen hier hatten, einen Europacup, von dem noch nie jemand etwas gehört hatte. Dabei hatten wir richtig Spaß! Aber sonst fällt mir an Außergewöhnlichem außer Schalke nichts ein.

Hemforth: Schalke ist ja auch das Markanteste. Ich habe zwar gewusst, dass in Schaffrath ein Radrennen war. Aber nicht, dass es ein Special mit Tretrollern gab.

Sind in Gelsenkirchen nur Schalkes Bundesliga-Fußballer das Problem, dass es den anderen Sportarten so schlecht geht?

Zurhausen: Ja.

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Hemforth: Nein, Schalkes Fußballer sind kein Problem. Gelsenkirchen ist schon seit 1904 eine Fußball-Stadt und durch den Fußball in der ganzen Welt bekannt. Breitensport ist in Gelsenkirchen auch kein Problem, Leistungssport im Amateurbereich gibt es nur noch in wenigen Sportarten, zum Beispiel im Schwimmen, Tischtennis, Volleyball und so weiter. Erstens fehlen den Jugendlichen Leitbilder. Als die Schalker Basketballer in der Bundesliga und später in der Pro B gespielt haben, war die Halle immer voll. Profis verschiedener Nationen waren in der Mannschaft und sind auch zum Unterricht in die Schule gekommen. Die Kinder waren begeistert. Zweitens fehlen Trainer. Ich kann trotz Anfragen keine Jugendmannschaften stellen.

WAZ-Interview bei Pizza und Pasta: Gerd Hemforth, Michael Zurhausen sowie die WAZ-Sportredakteure Andree Hagel und Thomas Tartemann (von links).
WAZ-Interview bei Pizza und Pasta: Gerd Hemforth, Michael Zurhausen sowie die WAZ-Sportredakteure Andree Hagel und Thomas Tartemann (von links). © Oliver Mengedoht

Sie können Kinder und Jugendliche gar nicht ausbilden, weil Sie keine Trainer haben?

Hemforth: Richtig. Ich kann nicht alles selbst machen.

Zurhausen: Früher war es so, dass sich die älteren Radfahrer um die Jugendlichen gekümmert haben. Die sind dann von Buer bis nach Haltern, da waren die Straßen auch noch nicht so voll, und haben erklärt. Heute hast du das Problem, wenn Eltern mit ihrem Kind zu dir hinkommen: Wie willst du das veranstalten, dass ein Zwölfjähriger auf den Straßen gefahrlos trainiert? Du hast keine Rennfahrer mehr, die sich mit den Jugendlichen beschäftigen, und ausgebildete Radsport-Trainer gibt es nur ganz wenige. In Deutschland ist die gesamte Jugend im Radsport weggebrochen.

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Das war früher anders?

Zurhausen: Zu meiner Zeit, in den Siebzigerjahren, als ich gefahren bin, waren in der Klasse der 14- bis 16-Jährigen 80 bis 100 Jugendliche am Start. Wenn du heute zehn hast, ist das viel. Wir verlieren unheimlich viele Jugendliche an E-Sports. Das muss man sich mal vorstellen: Da packt man Zehn- oder Zwölfjährige zu Hause vor den Rechner, statt sie sich auf dem Sportplatz, in der Halle oder dem Fahrrad rumtreiben, und die ballern wie blöd rum. Normalerweise müsste man einem Sportverein verbieten, so etwas anzubieten. Die sind dafür da, dass sich die Jugendlichen bewegen.

Früher gab es in den Schulen auch eine bessere sportliche Ausbildung.

Zurhausen: Guck dir mal die Ergebnisse bei Bundesjugendspielen an. Ich habe mir das mal live angeschaut. Da laufen die beim Weitsprung an, bleiben vorm Balken stehen und hüpfen rein.

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Hemforth: Beidbeinig. Und dann kommen die Eltern und sagen, der Abstand vom Brett zur Grube sei zu groß. Bundesjugendspiele sind mittlerweile verpönt, weil die Kinder da angeblich vorgeführt werden. Es traut sich kaum noch jemand, Bundesjugendspiele zu veranstalten. Laufen, springen, werfen. In den vergangenen 15 bis 20 Jahren ist die Spirale immer weiter nach unten gegangen, und niemand hat versucht, das aufzuhalten.

Zurhausen: Es ist ja inzwischen auch so, dass die Eltern zu den Sportvereinen kommen und erwarten: Organisier du die Freizeit meines Kindes. Nimm es mir vier, fünf Stunden ab, und dann ist es in Ordnung. Und wenn wir eine Jahreshauptversammlung machen, kriechen die ganz schnell untern Tisch, oder sie verschwinden direkt wieder. Dieses Ehrenamt, das immer so publik gemacht wird, ist meiner Meinung nach im Aussterben. Schauen Sie sich uns beide an: Ist doch lächerlich, dass wir in unserem Alter noch vorne stehen. Das ist schlimm, da wird mir angst und bange.

Hemforth: Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Eltern parken ihre Kinder. Die Kinder kommen aber dahin, weil sie geschickt werden, und nicht, weil sie es selbst möchten.

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Ein entscheidendes Problem ist also auch schlechter Unterricht an den Schulen?

Gerd Hemforth.
Gerd Hemforth. © Oliver Mengedoht

Hemforth: Das kann man so pauschal nicht sagen. Die Lehrpläne haben sich geändert. Heute steht nicht die Leistung im Vordergrund, sondern der Erwerb von Kompetenzen. Technik und Taktik werden nur am Rande vermittelt. Früher gab es an fast jedem Gymnasium in Gelsenkirchen einen Diplom-Sportlehrer, der aus dem Leistungssport kam und die Begeisterung für seine Sportart in die Schule gebracht hat. Dadurch entstand eine enge Kooperation zwischen der Schule und dem Verein. Hier einige Beispiele: Hubert Beck, Annette-von-Droste-Hülshoff-Gymnasium, Basketball Schalke 04; Werner Schallau, Grillo-Gymnasium, Leichtathletik Schalke 96; Gerd Trawny, Max-Planck-Gymnasium, Badminton; ich selbst, Grillo-Gymnasium, Leichtathletik und zuletzt zirka 25 Jahre Volleyball. Aus diesen Kooperationen gingen viele deutsche Spitzensportler hervor, die wiederum die Schüler begeistert und in den Verein geholt haben.

Zurhausen: Weißt Du, was da noch ein großes Problem ist? Die Verbände werden ja nach Medaillen bei den Olympischen Spielen bezahlt. Es gibt also gewisse Leistungsvorgaben. Die verlangen bei uns von einem 16-Jährigen, der aber bis 16 Uhr Schule hat, eine Jahresleistung von 15.000 Kilometern: Wie soll das funktionieren? Der hat dann, bis er 23 ist, Zeit, den Sprung nach oben zu schaffen, was aber nur drei, vier Fahrern gelingt. Der Rest wird fallengelassen, und dann ist das Problem groß.

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Hemforth: Das, was Du sagst, betrifft ja im Prinzip alle Sportarten. Das ist nicht einmal bei Schalke anders. Die sichten Hunderte Kinder, und es bleibt vielleicht eines übrig, das damit später mal sein Geld verdient. Sie wissen genau: Wenn fünf vom Platz gehen, kommen zehn Neue. Ob Kinder auf der Strecke bleiben, ist dann nicht so interessant. Ich war vor meinem Studium im deutschen B-Kader der Speerwerfer, habe aber kein Geld bekommen. Selbst die Athleten beim TV Wattenscheid 01 bekommen 1500 bis 2000 Euro. Das läuft in anderen Ländern professioneller.

Zurhausen: Das Problem ist, dass wir keinen Amateursport mehr haben. Früher gab es Pokale, Urkunden. Ich kann mich noch entsinnen, als ich in den Siebzigerjahren in Gelsenkirchen gefahren bin: Ernst-Kämper-Preis auf der Weberstraße. Da habe ich ein Jugendrennen gewonnen, und als ersten Preis gab es einen Rahmen für ein Damen-Fahrrad, auch wenn ich mit dem nichts anfangen konnte. Oder mal eine Waschmaschine, die du dann auch noch nach Hause kriegen musstest, oder zwei Winterreifen. Heute, auch bei den Radrennen, die wir machen, geht’s nur darum: Wie viel Geld steht auf den Plan? Wie viel Geld bekommen wir für den 15. Platz? Wie viele Prämien habt ihr? Unser Rennen in Gelsenkirchen hat auch deshalb sehr viel Erfolg, weil wir in der Lage sind, hohe Geldpreise zu zahlen, und viele Prämien haben. Dazu kommt noch: Wenn du Top-Leute präsentieren willst, musst du Startgelder bezahlen.

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Das bedeutet?

Zurhausen: 2018 hatten wir Theo Reinhardt hier, als Weltmeister auf der Bahn. Da legst du erst einmal eine vierstellige Summe hin.

Können Sie das denn an der Zuschauer-Zahl ablesen, dass ein Theo Reinhardt fährt?

Zurhausen: Doch. Ja. Gelsenkirchen ist von den Radsport-Fans her immer noch ein sehr attraktives Publikum. Die Leute sind hier absolut verwöhnt.

Hemforth: Man möchte Kinder überhaupt mal sportlich aktiv werden lassen, und das hat mit Leistungssport überhaupt nichts zu tun. Dinge von früher kennen die auch gar nicht mehr. Selbst bei den Profis werden die Trainings, die Felix Magath, Berti Vogts oder Karl-Heinz Drygalsky haben absolvieren lassen, so hingestellt, als sei es ein halber Mord gewesen.

Michael Zurhausen.
Michael Zurhausen. © Oliver Mengedoht

Zurhausen: Früher wollen die alle gar nicht hören. Wenn wir erzählen, dass wir vor einem 160-Kilometer-Rennen 200 Kilometer trainiert haben, gucken die heute alle blöd. Es ist doch so, wenn man auf die Entwicklung schaut: Es wird nur noch Vereine geben, die den Breitensport oder den Spitzensport fördern, den Leistungssport. Warum? Wenn du den Spitzensport förderst, brauchst du Leute und Geld – und eine Sportart, die attraktiv ist. Aber jetzt sind wir wieder in Gelsenkirchen: Wenn du in einer Stadt einen Fußball-Bundesligisten hast, nimmt der allen anderen Vereinen die Sponsoren weg. Hier gibt es nur drei Sponsoren, zu denen ich immer gehen kann und die den Amateursport hier hochhalten: die Sparkasse, die Volksbank und die ELE. Daran krankt der Gelsenkirchener Sport enorm.

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Hemforth: Die Sponsoren unterstützen ja auch in erster Linie hochklassige Veranstaltungen, weil da die Zuschauerzahlen stimmen.

Zurhausen: Wichtig ist heutzutage bei Sportveranstaltungen auch der Showeffekt, das Drumherum. Und das darf alles nicht zu lange dauern. Für mich als Veranstalter ist es wichtig, dass die Leute nach Hause gehen und sagen: Ich weiß zwar nicht, wer gewonnen hat, aber es war super, hat Spaß gemacht. Viele gute Sportler werden gar nicht mehr erkannt. Das war früher anders.

Hemforth: In Gelsenkirchen gibt es ja zum Beispiel auch Taekwondoka oder Kickboxer, die national wirklich sehr gut sind, aber ich kenne keinen Einzigen.

Zurhausen: Aber diese Sportarten – ich habe mir mal mit Erhan Baz Judo angeschaut – haben den Nachteil, auch wenn man das denen eigentlich gar nicht sagen darf, dass sie einfach langweilig sind.

Kompliziert wegen ihrer Regeln.

Zurhausen: Wenn du als Laie hinkommst, verstehst du nix.

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Die Gelsenkirchener WAZ-Sportredaktion wünscht fröhliche Weihnachten! Den zweiten Teil des Interviews mit Gerd Hemforth und Michael Zurhausen lesen Sie in drei Tagen.