Dortmund. Eine neue Erfahrung in meinem noch jungen Läuferleben: Ich wurde Letzter! Und dennoch bin ich stolz. Eine Einführung in die Relativität des Laufens.
Ich weiß nicht, ob Albert Einstein Läufer war. Ist aber auch irrelevant. Denn durch die Lauferei habe ich endlich verstanden, wie Relativität funktioniert - zumindest die läuferische. Bei Einstein geht es ja um die Lichtgeschwindigkeit, die Zeit und wie die Zeit vergeht, wenn man sich mit Lichtgeschwindigkeit auf einen Punkt zu oder von ihm weg bewegt... Kompliziert und völlig lebensfern, weil ich ja nie mit Lichtgeschwindigkeit laufe. Und trotzdem gilt auch beim Laufen, dass Zeit, Ort und Geschwindigkeit in engem Zusammenhang stehen.
Genauer gesagt, gibt es drei Relativitäten: die der Strecke, die der Zeit und die der Platzierung.
1. Die Relativität der Strecke - je höher des Tempo, desto weiter der Weg
Eine Runde um den Phoenixsee zum Beispiel ist rund 3,3 Kilometer lang. Das ist Fakt und sollte daher auch nicht relativierbar sein. Ist es aber. Wenn ich diese Runde in meinem Wohlfühltempo von rund 6:30 Minuten je Kilometer laufe, fühlt sich die Runde so lang an, wie sie tatsächlich ist. Laufe ich aber schneller, also vielleicht 5:35 Minuten pro Kilometer, wie am Sonntag beim Dortmunder Neujahrslauf, erscheint mir diese Runde viel länger - und das, obwohl ich objektiv betrachtet weniger Zeit brauche! Besonders kurios: Die zweite Hälfte der Runde ist noch länger als die erste. Es ist so, als zöge sich der Weg vor den Augen in die Länge.
Die Relativität der Strecke hängt untrennbar mit der zweiten Relativität zusammen:
2. Die Relativität der Zeit - je höher das Tempo, desto langsamer vergeht die Zeit
Im Wohlfühltempo dauern zehn Minuten zehn Minuten. Kennt jeder. Der Läufer ist mit sich und dem Raum-Zeit-Kontinuum in völliger Harmonie und trabt genüsslich seines Weges. Aber wehe, es geht ans Intervall-Training! Als Diesel, der ich nunmal bin, neige ich dazu, meine Kilometer in stetigem Tempo herunterzutuckern. Tempoverschärfungen sind unnütze Ressourcenverschwendung. Doch selbst, wenn ich schneller laufe, also einen Schnitt unter sechs Minuten pro Kilometer, passt das Zeitgefühl in der Regel noch ganz gut.
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Das ändert sich beim Intervalltraining, vor allem beim Tabata-Training mit Intervallen von zehn Sekunden so genannter Erholung und 20 Sekunden Voll-Belastung. Zehn Sekunden Erholung sind ein Wimpernschlag! 20 Sekunden Knüppelei auf Asphalt dauern so lange, dass ich im Kopf mindestens hundert Mal "Aufhören! Aufhören!" brüllen kann - eine kleine Ewigkeit! Die nächsten zehn Sekunden Päuschen sind noch kürzer, die kommenden zwanzig dafür um so länger und so weiter. Schnelles Laufen dehnt also die Zeit!
Die dritte Relativität funktioniert unabhängig von 1 und 2:
3. Die Relativität von Platzierungen - wenn der Letzte gar nicht Letzter ist
Der Neujahrslauf am Phoenixsee hat mir in meinem jungen Läuferleben eine völlig neue und vor allem nie gewollte Erfahrung beschert: Zum allerersten Mal bin ich Letzter geworden. In meiner Altersklasse, in meinem Lauf, irgendwie in allem. Und trotzdem bin ich verdammt stolz auf das, was ich an diesem Sonntag geleistet habe. Das hat mit dem Modus des Laufs und der damit verbunden Relativität zu tun.
Beim Neujahrslauf konnte jeder Teilnehmer so viele Runden um den See drehen, wie die Füße es zuließen. Mehr als acht waren jedoch nicht drin. Ich legte mich auf mindestens vier, realistisch höchstens fünf fest. Die Krux: Nach anderthalb Stunden durfte man keine neue Runde mehr beginnen, sondern musste ins Ziel laufen. Ich musste also kurz vor dem Gong in den Start-Ziel-Bereich kommen, um noch eine Runde anhängen zu dürfen.
Eine Runde verpennt!
Gleich zu Beginn meiner gefühlten vierten Runde checkte ich kurz die Zeit und sah, dass es mit einer weiteren See-Umrundung ganz vielleicht klappen könnte, wenn ich das Tempo weiter hochhalten könnte. Irgendwann holten mich Oliver und Sebastian von der Laufschule Dortmund ein. Wir sprachen kurz über die Aussichten, noch vor Ablauf der 90 Minuten zum Start-Ziel zu kommen. Oliver und Sebastian waren optimistisch. Wir verglichen unsere gelaufene Distanz und ich stellte zu meiner Überraschung fest, dass ich nicht in meiner vierten, sondern schon in der fünften Runde war! Ich hatte eine komplette Runde beim Laufen verpennt!
Jedenfalls steckten mich meine beiden Mitläufer mit ihrem Optimismus an. Wir verschärften noch einmal das Tempo und setzten einen kleinen Spurt an. Und tatsächlich: Nach 1:29:50 h passierten wir, angefeuert vom Streckensprecher, den Start-Ziel-Bereich und hatten uns somit das Ticket für eine Bonusrunde ersprintet! Wir plauderten und trabten (Oliver und Sebastian trabten, ich hechelte) um den See. Irgendwann gab ich den beiden die Erlaubnis, mich abzuhängen und so zogen sie davon.
Letzter! Allerletzter!
Als ich die Ziellinie überquert hatte, wurde mir schlagartig klar, dass ich wohl der allerletzte Läufer gewesen sein muss, der ins Ziel gekommen ist. Denn alle Sieben- oder Acht-Runden-Läufer waren natürlich so schnell, dass sie längst im Ziel waren. Die Läufer, die weniger als sechs Runden unterwegs waren, mussten ebenfalls schon angekommen sein. Also blieben wir, die letzten Sechs-Runden-Mohikaner, übrig. Und tatsächlich: Von den 50 Menschen, die sechs Runden, also 19,5 Kilometer, gelaufen sind, war ich mit 1:49:02 h der langsamste. Letzter!
Aber eigentlich nicht, oder? Ich bin einen 5:35er Schnitt gelaufen, war also schneller als viele, viele meiner Mitläufer. Die meisten von denen haben allerdings nach drei, vier oder fünf Runden aufgehört. Bin also Letzter? Im Fußball heißt es immer, die Tabelle lüge nicht. Ergebnislisten offenbar schon - oder sie sind einfach nur relativ.
Denn nach dem Neujahrslauf ist für mich klar: Ich war zwar relativ Letzter, aber mit meiner Leistung absolut zufrieden!
Update: Beim Studium der Ergebnisliste habe ich festgestellt, dass bei den Fünf-Runden-Läufern eine Teilnehmerin und ein Teilnehmer doch noch einen Tick länger gelaufen sind als ich.