Essen. . Es gibt Fakten, unmissverständliche, unumstößliche Tatsachen, die eine Differenzierung ermöglichen, wer bei der Europameisterschaft 2012 zu den Verlierern und Gewinnern gehört - neben dem Platz. Manchmal aber, man wundert sich, sind die Grenzen doch fließend.

Wird der Wettskandal in Italien nach dem EM-Turnier noch dieselbe bedrohliche Bedeutung haben wie vorher? Wird man jemals wieder unbeschwert am Strand von Usedom spazieren können, ohne an Katrin Müller-Hohenstein denken zu können? Hat Mario Balotelli eine bessere Muckibude als Cristiano Ronaldo? Was hält Joachim Löw von bildlichen Beißern, die ihn erst wegen seines doch so goldenen Händchens in den Rang eines Fußballheiligen erheben und ihm nach genau einem Griff in den Misthaufen den Rücktritt nahelegen? Es bleiben Fragen nach dieser EM.

Aber es gibt auch Fakten. Unmissverständliche, unumstößliche Tatsachen, die eine Differenzierung ermöglichen, eine Aufteilung in Verlierer und Gewinner. Manchmal aber, man wundert sich, sind die Grenzen doch fließend.

DIE VERLIERER

Mario Monti: Italiens Regierungschef hatte wegen des Wettskandals direkt vor der EM die bemerkenswerte Idee, in seinem Land mal für zwei, drei Jahre die Luft aus dem Profi-Fußball zu lassen. Er durfte sich bestätigt fühlen, als die Nationalmannschaft sich dann prompt mit 0:3 gegen Russland blamierte. Auch direkt vor der EM.

Der Mann ohne Hose: Tim O’Leary ist Engländer, 35 Jahre alt, angeblich Millionär und nachweislich Fan seiner Nationalmannschaft. Das Viertelfinale gegen Italien erlebt er im Stadion von Kiew, und als es ins Elfmeterschießen geht, ahnt er, dass es wieder nicht gut enden würde. Weil Engländer beim Elfmeterschießen traditionell so stilsicher sind wie in der Küche (Stichwort: Nierchen in Mintsauce). Tim O’Leary glaubt, etwas tun zu müssen. Und er tut etwas. Er stellt sich direkt hinter das Tor von Joe Hart, und als Alessandro Diamanti zum entscheidenden Schuss anläuft, lässt er seine Hose herunter, um mit entblößten britischen Kronjuwelen den Italiener zu irritieren. Diamanti trifft trotzdem. O’Learys schwangere Frau Klara sagt später, die Blitzaktion ihres Gatten sei „sehr, sehr witzig“ gewesen. So gesehen gehört O’Leary vielleicht dann doch eher in die Kategorie Gewinner.

Hat ihren EM-Einsatz verpasst: Micaela Schäfer.
Hat ihren EM-Einsatz verpasst: Micaela Schäfer. © imago

Daniela Katzenberger und Micaela Schäfer: Die großen klugen Frauen der deutschen Unterschichten-Unterhaltung haben ihren Einsatz verpasst. Haben es versäumt, aus der EM Kapital zu schlagen. Sie hätten sich doch bloß unmittelbar vor dem Turnier mit, sagen wir mal, Jerome Boateng zu nächtlicher Stunde in einem Berliner Hotel verabreden müssen, um anschließend tagelang im Gespräch zu sein. Jetzt bleibt ihnen nur noch der Weg ins Tonstudio. Titel ihrer CD: „Und wir haben ein Idol, Gina-Lisa...“

Dieter Nuhr: Der Comedy-Kabarettist, oft ein Freund des geschliffenen Zynismus, fühlte sich nach der deutschen Halbfinal-Niederlage zum Twittern animiert. „Fußball ist überschätzt“, zwitscherte er. Im Faustball, im Dressurreiten und im Skat seien die Deutschen doch super. Sollte wohl lustig sein.

Slavek und Slavko: Die EM-Maskottchen, Zwillinge in unterschiedlichen Landesfarben, brachten den Gastgeberländern weniger Glück als Angela Merkel der deutschen Elf im Viertelfinale und gerieten schon während des Turniers in Vergessenheit. Wie sie das hätten verhindern können? Da hätten sie mal Goleo fragen sollen, den hosenlosen Löwen von 2006. Oder Mister O’Leary.

Viktor Janukowitsch: Er hatte doch so einen guten Plan, der Staatschef der Ukraine. Internationale Imagekorrektur im Glanze des Großturniers. Hat nicht geklappt.

DIE GEWINNER

Oliver Kahn: Jetzt darf er wieder zubeißen. Muss ja furchtbar gewesen sein, diese Weicheier, die ihm nachfolgten, ständig für gepflegten Fußball loben zu müssen. Und dann: Da ist das Ding – der Halbfinal-K.o. gegen Italien, wie geschaffen für einen titanischen Rechtfertigungsvortrag. Flache Hierarchien – pah! Wir brauchen Tugenden. Werte. Härte. Willen. Leidenschaft. Einsatz. Wie früher. Bei uns. Bei mir.

Plön: Liegt in Schleswig-Holstein, war während der EM der meist erwähnte deutsche Ort. Weil die Mutter des Italieners Riccardo Montolivo, wie jeder Fernsehreporter spannend zu berichten glaubte, „aus der Nähe von Plön stammt“. Schön für Plön. So kann man sich die Kosten fürs Stadtmarketing sparen.

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Marcel Reif: Gezwungenermaßen saß der Kommentator des diesmal rechtelosen Senders Sky zu Hause vor dem eigenen Bildschirm. Und selbst dabei konnte er seinen Ruf untermauern. Denn beim Halbfinale hockte neben ihm ein Reporter der Süddeutschen Zeitung, der Sätze notierte wie diesen: „Spanien – das ist so, wie wenn man der Oma beim Stricken zuguckt. Noch ‘ne Masche, noch ‘ne Masche.“

Arjen Robben, Klaas-Jan Huntelaar, Rafael van der Vaart: Bert van Marwijk ist weg, auch sie dürfen also niederländische Nationalspieler bleiben. In diesem Wohlfühl-Ensemble, in dem jeder seine persönlichen Interessen dem Mannschaftsgeist unterordnet. Ich bin ein Star, ich bleib hier drin.

Felix Magath: Der Wolfsburger Allesentscheider darf sich nun wieder ungeniert für seine Methoden rühmen. Dem Bundestrainer konnte er nach dem Halbfinal-Aus schön vorhalten, zu sehr auf einen „intakten Mannschaftsgeist gesetzt“ und dabei vernachlässigt zu haben, „den Kampfgeist zu schulen“. Magath, der Mächtige, weiß natürlich, wie man so etwas macht. Schließlich ist er bekannt für clevere pädagogische Maßnahmen wie das minutenlange Anschweigen eines Spielers, den er zum persönlichen Gespräch bat.

Krake Paul: Bleibt der einzig wahre tierische Fußballhellseher. Alle Nachfolger blamierten sich bis auf die Saugnäpfe. Auch Schweine, Kühe und Elefanten hatten vom Fußball so viel Ahnung wie Engländer vom Elfmeterschießen. Lediglich ein Maulwurf gelangte bei der EM zu gewisser Berühmtheit.

Lukas Podolski: Der deutsche Linksdraußen gewinnt den EM-Preis für Fußballer-Logik. Frage: „Wann haben Sie erfahren, dass sie gegen Griechenland nicht spielen werden?“ Antwort: „Vor dem Spiel.“

Wir alle: Vier Jahre lang quälte uns eine Frage. Wie kann es die deutsche Nationalmannschaft überhaupt schaffen, die ewigen Endspiel-Spanier zu schlagen? Endlich kennen wir die Antwort: Indem sie vielleicht erst einmal in einem Halbfinale die Italiener besiegt.