Kiew. . Er war der “Man of the Match“ im Viertelfinale gegen England. Nicht nur mit seinem sagenhaften Elfmeter gegen die Engländer hat Andrea Pirlo seine Fans verzückt. Der stille Genießer ist aus der italienischen Nationalmannschaft nicht weg zu denken.
Auch ein Andrea Pirlo bewegt sich mitnichten als alterslose Erscheinung auf dieser Welt. Seine wallende Mähne mag noch so mächtig wirken wie immer, aber sein kantiges Gesicht zeigt Züge eines unvermeidlichen Prozesses. Der Lombarde aus Brescia hat tiefe Falten bekommen, markante Zeichnungen um die Augen und den Mund; aus der Nähe hat das jeder später sehen können in dieser magischen Nacht von Kiew. Denn nach dem Viertelfinal-Drama, das mit den Italienern den nicht nur nach Pirlos Meinung „verdienten Sieger“ hervorbrachte, haben sich unweigerlich viele Scheinwerfer auf den 33-Jährigen gerichtet.
Wie immer ist der stille Stratege mit hängenden Schultern und schlaffer Haltung aus der Kabine gekommen. Anders als sonst hat der Mann auf dem Weg zum Mannschaftsbus sogar angehalten: Einige Male reckte er freudig den Daumen nach oben. Dann schrieb er Autogramme. Und: Pirlo redete sogar ein bisschen, obwohl er gemeinhin seine Aura des Unantastbaren ungern aufgibt.
Englands Trainer Hodgson mit Lob für Pirlo
Der Anti-Held hält sein Privatleben erfolgreich unter Verschluss; er gibt im Land des großen Palavers den geheimnisvollen Schweiger, denn meist findet der Meisterspieler von Juventus Turin, dass mit einem Auftritt auf dem Platz genug gesagt sei. Im Grunde war es das ja auch gegen England wieder, wenn nicht dieser Elfmeter gewesen wäre, an dem sich die Tifosi nicht satt sehen können. „Ich habe gesehen, dass der Torwart angespannt war und sich früh bewegt“, berichtete Pirlo unaufgeregt, „und dann habe ich mich so entschieden.“
Wieder einmal führte die Intuition bei ihm Regie; auch bei diesem sagenhaften Strafstoß, der höchst verdächtig ist, den Antonin-Panenka-Gedächtnispreis zu bekommen. So wie das tschechische Schlitzohr bei der EM 1976 Deutschlands Sepp Maier verlud, lag nun Englands Joe Hart auf dem Hosenboden – der Anfang vom Ende für die vom Elfmeterschießen traumatisierten Insel-Kicker. „Gratulation an Pirlo. Eine Mannschaft braucht coole, abgeklärte Typen, die Elfmeter verwandeln, wie man sie nicht trainieren kann“, lobte Englands Trainer Roy Hodgson den „Man of the Match“.
Es ist unstrittig, dass Stoiker Pirlo viele überragende Länderspiele bestritt. Aber hat er je das Geschehen so geprägt wie in seinem 87. Einsatz? Als Fixpunkt für Dominanz. Als Prototyp für Eleganz. Er kann defensiv denken und gleichzeitig offensiv lenken, weil ihn mit Claudio Marchisio und Daniele de Rossi lauffreudige Spieler flankieren. Aber: Allein Pirlos Pässe zerschneiden eine Abwehr wie ein Seziermesser. Mit der Leichtigkeit eines Hochbegabten legt er die Bälle in die Schnittstellen.
Bei der WM 2010 war Pirlo nur 34 Minuten im Einsatz
„Das Wichtigste für unsere Mannschaft ist das Semifinale gegen Deutschland. Das wird schwer, denn die Deutschen sind durchmarschiert.“ Aber haben die Alemannen auch ein wirkungsvolles Gegenmittel gegen diesen Großmeister des Rasenschachs? Pirlo verriet für den Showdown in Warschau nur: „Wir hoffen, dass wir wieder ins Finale kommen.“
War er nicht der Bösewicht, der in der Dortmunder Sommernacht am 4. Juli 2006 kurz vor Ende der Verlängerung des WM-Halbfinals diesen verteufelten Pass gab, mit dem Fabio Grosso unhaltbar vollendete? Ja. Und die WM 2010 in Südafrika wurde auch deshalb zum italienischen Desaster, weil Pirlo wegen einer Verletzung nur 34 Minuten spielen konnte.
Italiens Nationaltrainer Cesare Prandelli mag mit vielem im Lande gebrochen haben, aber an seinem alten Architekten würde er nicht rütteln. Damals wie heute ruhen die Hoffnungen auf dem nur 1,77 Meter großen Genius, der aus der Tiefe des Raumes einen der besten Gestalter dieses Turniers abgibt. Ein Künstler, „wie Beethoven oder Mozart“, sagte der französische Ex-Europameister Christian Karembeu bei der Preisverleihung zum „Man of the match.“ Pirlo war in kurzer Hose gekommen. Kräftiger Händedruck, kurzer Smalltalk. Dann heißt es für den stillen Strategen nichts wie weg.