London/Herzogenaurach. Die EM hat gezeigt: Auf höchstem Niveau fehlt Deutschland die Auswahl. Wie sieht die künftige DFB-Elf aus? Wer geht? Vieles ist offen.
Am Ende streikte auch noch die Technik. Mats Hummels saß in den Katakomben des Wembley-Stadions und sprach in einen Monitor zu den Journalisten auf der Tribüne. Doch dort kamen große Teile seiner Worte nur bruchstückhaft an, was diesen Abend aus deutscher Sicht passend abrundete.
Mats Hummels tief enttäuscht über das Ausscheiden
Hummels‘ Worte waren ja die letzten eines deutschen Spielers bei dieser Europameisterschaft. Das Achtelfinale war verlorengegangen, 0:2 (0:0) gegen den Rivalen England im Fußballtempel von Wembley. Ein jähes Turnier-Aus. „Wir waren der festen Überzeugung, dass es weit gehen kann“, das war zu verstehen. Und die Enttäuschung war trotz aller Übertragungsprobleme zu hören und zu fühlen.
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Hummels war ja vor zweieinhalb Jahren bereits ausgemustert worden von Bundestrainer Joachim Löw – und wurde dann zurückgeholt, weil der Umbruch nicht wie gewünscht funktionierte. Er war, obwohl er sich nach außen zurückhielt mit markigen Aussagen, gleich wieder Abwehrchef. Er schoss beim 0:1 gegen Frankreich das unglückliche, aber entscheidende Eigentor. Er verteidigte gegen Englands Topstürmer Harry Kane stark, aber dessen Kopfballtor am Ende konnte er doch nicht verhindern. Und er war Teil einer Abwehr, die in vier Turnierspielen sieben Gegentore kassierte – viel zu viel.
Hansi Flick übernimmt als Trainer - mit neuen Vorstellungen
Und so endete die Rückkehr „alles in allem als Enttäuschung“, sagte Hummels. Obwohl: War es wirklich das Ende der Nationalmannschaftskarriere? „Das werde ich irgendwann in ein paar Woche entscheiden“, antwortete der 32-Jährige. „Nach dieser Saison brauche ich erstmal ein bisschen Pause und muss den Kopf freibekommen.“
Hummels‘ Zukunft ist eine der offenen Fragen rund um die Nationalmannschaft, aber bei weitem nicht die einzige. Das Gesicht dieser Auswahl wird sich verändern müssen, soviel ist klar. Weil große Turniere immer eine Zäsur bedeuten. Weil in Hansi Flick ein neuer Trainer mit neuen Vorstellungen übernimmt. Weil die deutsche Nationalmannschaft erstmals zwei erfolglose Turniere nacheinander hingelegt hat, aber schon zur Weltmeisterschaft im Winter 2022 und spätestens zur Heim-EM 2024 wieder titelreif sein soll. Und weil viele wichtige Spieler schon jenseits oder nahe der 30 sind.
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Der scheidende Bundestrainer Joachim Löw wiederholte zwar noch einmal, was er schon mehrfach gesagt hatte, dass nämlich diese Mannschaft noch reifen müsse und ihren Zenit vielleicht erst 2024 erreichen werde – weil es vielen Spielern an Turniererfahrung mangele.
Aber: Eine unerfahrene Truppe hatte er nun wirklich nicht beisammen. Kapitän Manuel Neuer ist 35, Mittelfeldchef Toni Kroos und Müller sind 31, Ilkay Gündogan 30. Die deutsche Mannschaft war die älteste, mit der Löw je zu einem Turnier angetreten war, auch die jüngeren wie Leon Goretzka, Joshua Kimmich, Serge Gnabry oder Leroy Sané sind Mittzwanziger – haben also das erreicht, was man gemeinhin das beste Fußballalter nennt.
Kimmich und Goretzka als Kraftblock im Zentrum
Löw hat den Umbruch nicht geschafft, hat ihn vor dem Turnier sogar abgebrochen mit der Rückholaktion von Müller und Hummels. Flick wird ihn nun forcieren müssen. „Hansi ist jemand, der gerne junge Spieler einbaut, der gerne längerfristig schaut und versucht, für den deutschen Fußball Spieler zu entwickeln“, sagt Nationalmannschafts-Direktor Oliver Bierhoff – der sich aber tunlichst davor hütet, dem neuen Mann gleich konkrete Vorgaben zu machen.
Einiges zeichnet sich ja auch so schon ab: Zwei zentrale Stützen der neuen Mannschaft werden mit Sicherheit Kimmich und Goretzka sein – der Bayern-Kraftblock im Zentrum, mit dem Flick die Champions League gewann. Kai Havertz hat sich in der Offensive endgültig etabliert, er gehörte gegen England und über weite Teile des Turniers zu den Lichtblicken. Robin Gosens ist ein Gewinner in der deutschen Mannschaft, dank seiner Spielweise und dank seiner positiven Art neben dem Platz.
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Ansonsten gibt es viele Fragezeichen: Ilkay Gündogan etwa erinnerte so gar nicht an den Spieler, der gerade im Trikot von Manchester City die wohl beste Saison seiner Karriere spielte. Erneut fand er im DFB-Trikot seine Rolle nicht. Toni Kroos bestimmte zwar wie gewohnt das Aufbauspiel und gefiel auch kämpferisch – mit nur einem Unterstützer im Zentrum konnte er seine Stärken aber nur selten entfalten. Außerdem bleibt die Frage, ob seine Spielweise zum temporeichen und kraftvollen Flick-Fußball passt.
Beide, Gündogan wie Kroos, sollen auch schon sehr konkret über einen Abschied aus der Nationalmannschaft nachdenken. „Ich habe noch von keinem der älteren Spieler etwas in der Hinsicht gehört“, sagt Bierhoff. „Es ist ja auch gut, erst einmal Zeit verstreichen zu lassen und dann mal mit Hansi Flick darüber zu sprechen, wie er plant.“
Gnabry, Sané und Werner mit außergewöhnlichen Fähigkeiten
Bei Gnabry, Sané und Werner ist das Rücktrittsalter noch weit weg. Alle drei zählten zwar zur Riege der Enttäuschenden, dank ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten werden sie aber auch in Zukunft dazugehören.
Es gibt in Fußballdeutschland auch gar nicht so viele, die mit Macht in den Kader drängen. Klar, da ist der mit 25 Jahren noch vergleichsweise junge Julian Brandt, der in Dortmund vielleicht endlich zündet. Da ist das ewige Talent Julian Draxler. Und sonst? „Ich hoffe, dass wir mehr junge Spieler einbauen und ihnen in der WM-Qualifikation die Möglichkeit geben können, Erfahrung zu sammeln“, sagt Bierhoff. Aber die Auswahl ist dünn.
Rechtsverteidiger Ridle Baku, Mittelstürmer Lukas Nmecha und Mittelfeldspieler Florian Wirtz könnten kurz- und mittelfristig Alternativen sein und einige klaffende Lücken im Kader schließen. Ansonsten drängt sich aus der aktuellen U21 niemand auf. Die Mannschaft ist zwar gerade Europameister geworden, aber nichts deutet daraufhin, dass es ähnlich wird wie 2009, als Hummels, Neuer, Jerome Boateng, Benedikt Höwedes, Sami Khedira und Mesut Özil zum Nachwuchstitel stürmten und später das Korsett der Weltmeister-Mannschaft 2014 bildeten.
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Die Bilanz der zurückliegenden Jahrgänge ist ernüchternd: Von den Finalisten aus dem Jahr 2019 schafften es nur Lukas Klostermann, Florian Neuhaus und Robin Koch ins aktuelle Aufgebot, von den U21-Europameistern 2017 nur Serge Gnabry – der als einziger eine relevante Rolle spielte. „Wir schauen ein bisschen besorgt darauf“, sagt Bierhoff. „Es ist die Aufgabe des gesamten deutschen Fußballs, dass mehr gute Spieler zur Verfügung stehen.“
Hansi Flick allein wird das nicht schaffen können.