London. 15 Jahre lang war Joachim Löw Trainer der deutschen Nationalmannschaft. Im Wembley-Stadion endet seine Geschichte. Eine Analyse.

Auch in seinem letzten Moment als Bundestrainer bleibt sich Joachim Löw treu. Ein finaler Pfiff, das Wembley-Stadion explodiert emotional – und Löw gratuliert seinem Pendant Gareth Southgate. Drei schnelle Schritte, eine ausgestreckte Hand, dann eine herzliche Umarmung. Löw weiß: Es ist sein letzter Moment als Bundestrainer. 0:2 hat Deutschland gegen England verloren. Nach 17 Jahren beim DFB war es seine letzte Niederlage, das letzte Spektakel der Ära Löw.

Löw nutzt jeden Zentimeter seiner Coaching-Zone

Als dieses Spektakel rund 110 Minuten zuvor beginnt, hält Joachim, von allen Jogi genannt, Löw schon nach wenigen Sekunden nicht mehr viel auf seinem ihm zugewiesenen Tribünenplatz neben Co-Trainer Marcus Sorg.

Löw steht wahlweise mit verschränkten Armen oder mit den Armen in den Hüften in seiner (absurd kleinen) Coaching-Zone und dirigiert seine Mannschaft wie ein Maestro. Er setzt sich zwar immer wieder für ein paar Sekunden hin, springt dann aber schnell wieder auf nutzt jeden Quadratmeter seiner Coaching-Zone-Käfigs, um Rainer Maria Rilkes Panther alle Ehre zu machen. „Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte.“

Als nach rund 20 Minuten die Engländer besser ins Spiel kommen, ist es mit Löws Geschmeidigkeit schnell vorbei. Und als ausgerechnet Startelf-Überraschung Timo Werner die große Chance zur Führung vergibt (32.) fasst sich der Coach ungläubig mit beiden Händen an den Kopf. Das hätte sein Moment sein können. Löws Moment. Sein Plan wäre voll aufgegangen. Doch Fußball wird nicht im Konjunktiv gespielt.

Wenige Sekunden, bevor es in die Halbzeit geht, der Schreckmoment: Fehlpass Thomas Müller, Riesenchance Harry Kane, Mats Hummels blockt. Löw atmet auf, schimpft kurz – und verschwindet dann schnell in der Kabine.

Die Geschichte des Joachim Löw ist nun Geschichte

In der zweiten Halbzeit: same, same, but different. Löw tigert hin und her, klatscht, schimpft, setzt sich, steht wieder auf, trinkt was und grübelt. Nach 67 Minuten dann die erste wichtige Entscheidung: Löw bringt Serge Gnabry für den tapferen, aber glücklosen Werner. Die Überraschungsidee des Spiels, so viel zu diesem Zeitpunkt bereits fest, ist nicht aufgegangen.

Genauso wenig wie Löws Wechsel, wie sich wenige Minuten später herausstellt. Diagonalball, scharfer Pass, Tor Raheem Sterling. Das Wembley-Stadion explodiert – und Löw verzieht keine Miene. Zehn Sekunden Ruhe, dann baut er seine Mannschaft mit rudernden Armen wieder auf. Doch alles Rudern soll nichts nützen. Flanke, Kopfball, Tor, Kane. Nach 86 Minuten ist klar, was wenige Momente später durch den Abpfiff auch offiziell wird: Auch mutmaßlich unendliche Geschichten sind im Fußball endlich. Und die Geschichte des ewigen Löws ist seit Dienstagabend genau das: Geschichte.

Abschied: Englands Nationaltrainer Gareth Soutgate umarmt Joachim Löw nach dem Abpfiff im Wembley-Stadion.
Abschied: Englands Nationaltrainer Gareth Soutgate umarmt Joachim Löw nach dem Abpfiff im Wembley-Stadion. © dpa | Unbekannt

Es war sehr traurig, Jogi nach dem Spiel zu sehen“, sagt Torhüter Manuel Neuer nach dem Achtelfinalaus. „Er ist ein klasse Mensch und hat eine Ära geprägt. Dass es so zu Ende geht, ist sehr traurig.“

Noch am Vortag seines letzten Spiels war der 61-Jährige gleich mehrfach gefragt worden, ob ihm bewusst sei, dass die Partie gegen England möglicherweise sein letztes Spiel als Bundestrainer sein könnte. „Ich habe ganz viele andere Gedanken in meinem Kopf – zunächst mal ganz viel Freude“, antwortete Löw milde lächelnd. „Für solche Spiele ist man Trainer.“

Löw wusste wie kein Zweiter, dass zum Trainerdasein Siege und Tränen gleichermaßen dazugehören. 2014 war er der Mann, der am Strand von Bahia joggen ging und Deutschland zum Weltmeister machte. 2018 lehnte er etwas zu lange am Strand von Kasan an einem Laternenpfahl und war anschließend der Mann, der die größte WM-Blamage aller Zeiten zu verantworten hatte.

112 frühere Grundschüler machte er zu Nationalspielern

15 Jahre lang war er der oberste Fußballlehrer der Nation, trank Espresso und zog ganz nebenbei in sechs Turnier-Halbfinals in Folge ein. Eine Leistung, die für Nationalmannschaftsmanager Oliver Bierhoff viel zu wenig gewürdigt wurde. „Mit dem Weggang von Jogi endet eine Ära. Als er seine Arbeit beim DFB begann, gingen einige der Spieler noch zur Grundschule und träumten davon, Profi zu werden.

“Insgesamt 112 frühere Grundschüler machte Löw zu Nationalspielern. Ihren weiteren Weg wird er nun aus der Ferne verfolgen. „Ich bin zutiefst überzeugt, dass diese junge Generation ihren Leistungszenit 2024 erreicht und erleben wird“, sagte er unlängst.

Nun ist zunächst einmal genug gesagt. Außer eines: Good bye, Jogi Löw.