London. Der Sieg über den Rivalen Deutschland zeigt: England kann auch gegen große Gegner gewinnen. Die Öffentlichkeit träumt vom EM-Titel.

Auf der Tribüne von Wembley lächelte David Seaman. Er stand im Tor bei der Heim-EM 1996, als England im Halbfinale an Deutschland scheiterte, weil Gareth Southgate im Elfmeterschießen den entscheidenden Versuch vergab. Jetzt, 25 Jahre später, saß er in der VIP-Loge, zusammen mit anderen englischen Prominenten wie David Beckham, Ed Sheeran und Prinz William und erfreute sich an dem, was sich vor seinen Augen, was sich um ihn herum abspielte. Durch das 2:0 im EM-Achtelfinale gelang England der erste Sieg über Deutschland in einem Spiel in der K.o.-Runde seit dem WM-Finale 1966. Die rund 42.000 Fans tobten, als würde England schon als Europameister feststehen.

Glückliche Erinnerungen für eine neue Generation

Southgate, mittlerweile Nationaltrainer, sprach hinterher davon, wie er den lächelnden Ex-Kollegen Seaman auf der Anzeigetafel gesehen habe, und der Anblick transportierte ihn, Southgate, zurück in die Vergangenheit, zu seinem Fehlschuss vor 25 Jahren. Er hat vor dem Wiedersehen mit Deutschland viele Fragen dazu beantworten müssen. Stets hat er gesagt, dass selbst ein Sieg über den alten Angstgegner den Schmerz von 1996 nicht vergessen machen würde, und er wiederholte das nach dem 2:0-Erfolg, nachdem er Seaman erblickt hatte: „Für meine Kollegen von damals kann ich es nicht mehr ändern. Aber wir geben gerade einer neuen Generation viele glückliche Erinnerungen.”

Dass sich Southgate auf ewig verfolgt fühlen wird von seinem Missgeschick, ist nachvollziehbar, doch Englands Öffentlichkeit hat ihm verziehen, spätestens mit dem Sieg gegen Deutschland. „No more looking back”, titelte das Boulevard-Blatt „The Sun” (Kein Blick zurück mehr) . Die seriöse „Times” urteilte: „Southgate verbannt die persönlichen Dämonen der Euro 96.” Und noch mehr böse Geister hat England vertrieben. Unglaublich, aber wahr: Das 2:0 gegen Deutschland war der erste Sieg überhaupt für die Engländer in der K.o.-Runde einer EM in der regulären Spielzeit. Und es war der lang ersehnte Erfolg über eine große Fußball-Nation.

England bei Turnieren: Zuletzt eine Geschichte des Scheiterns

Englands Nationalmannschaft hatte ja nicht nur gegen Deutschland an einem Trauma gelitten, sondern war bei vergangenen Turnieren verlässlich am ersten wirklich ernstzunehmenden Kontrahenten gescheitert, egal, wie dieser hieß. Gegen Deutschland haben die Engländer diese Blockade durchbrochen. Sie haben endlich einen Gegner von großem Format besiegt – und zwar nicht irgendeinen, sondern eben jenes Land, das England immer wieder weh getan hat, im WM-Halbfinale 1990, bei der EM 1996, im WM-Achtelfinale 2010.

Der englischen Öffentlichkeit ist natürlich klar, dass das Deutschland von 2021 nicht mehr das Deutschland von vor ein paar Jahren ist. Landauf, landab war vor dem Spiel zu hören und zu lesen gewesen, dass die Chancen auf einen Sieg diesmal so gut seien wie lange nicht. Von daher haben die Engländer mit dem 2:0 durch die Treffer von Raheem Sterling und Harry Kane im Grunde nur das vollbracht, worauf sie sich ohnehin seriöse Hoffnungen gemacht hatten. Aber Hoffnungen zu haben und sie dann auch zu erfüllen, sind zwei unterschiedliche Dinge, das weiß keine Fußball-Nation besser als England.

Machbarer Weg ins Finale für England

Wie gut die Mannschaft wirklich ist, lässt sich immer noch nicht abschließend beurteilen, doch Fakt ist, dass sie bei der EM noch ohne Gegentor ist, einen Gegner – Deutschland – aus dem Weg geräumt hat, an dem sie in der Vergangenheit gescheitert wäre, und angesichts eines gnädigen Turnier-Plans als Favorit auf einen der beiden Plätze im Finale gelten muss. Im Viertelfinale am Samstag in Rom geht es gegen die Ukraine (21 Uhr/ARD), Gegner in einem möglichen Halbfinale wäre Tschechien oder Dänemark. Diese Partie würde wie das Endspiel in Wembley stattfinden.

Southgate muss vorher aber verhindern, dass seine Mannschaft nach dem Sieg über Deutschland abhebt, dass sie durch die öffentliche Euphorie leichtsinnig wird. Ob Englands Nationalmannschaft ihre traditionelle Zerbrechlichkeit wirklich abgelegt hat – das wird wohl erst klar sein, wenn die EM vorbei ist.