Dortmund. Christoff Strukamp ist auch noch Tage nach dem Wahnsinnsspiel gegen den VfB Stuttgart völlig begeistert vom BVB - und wäre gerne mal für ein paar Sekunden ein neutraler Beobachter. Nicht neutral ist er beim Thema Meisterschaft. Die lässt sich der BVB nicht nehmen, prognostiziert Strukamp in seiner Fankolumne.

Freitagabend, gegen 22.15 Uhr hatte ich für einen kurzen Moment mitdem Kapitel „Fußball“ ein für alle Mal abgeschlossen. Ernsthaft. Irgendwo zwischen dem Torschuss von Stuttgarts Christian Gentner und dem staubigen Geschmack des flauschigen IKEA-Teppichs vor meinemFernseher, in den ich vor Unglauben biss, hatte ich dieser Sportartabgeschworen. Auf einen Schlag war die Schönheit dieses Spielsvergessen. Ein Gegentor in letzter Sekunde ist nie gerecht. So denkt und fühlt der Fan. Zwischen Himmel und Hölle. Schwarz oder Weiß. Siegoder Niederlage.

Ich richtete den Blick ein letztes Mal auf in Richtung Fernseher – auf die Sportart, die mal ein Teil meines Lebens war. Tschüss, guterFreund. Mein Blutdruck und meine Fingernägel werden es mir danken. Kurz dachte ich an all die freien Wochenenden, die ich jetzt auch, wieMillionen andere Menschen, an Seen und in Straßencafés verbringenkönnte...dann sah ich Marcel Schmelzer und dieser Verrückte rannteimmer noch. In der 94. Minute. Nach dem vierten Gegentreffer in nochnicht einmal zwanzig Minuten. Er presste den Kopf zwischen dieSchultern und sprintete dem letzten Ball des Spiels hinterher, füreinen letzten Angriff, für die letzte Chance und für Borussia. Anders,als ich, der dort am Boden saß, glaubte er noch an die Möglichkeitdiesem denkwürdigen Fußballspiel eine sagenhafte, fünfte Wendung zugeben.

Auch heute, knapp 48 Stunden nach diesem unglaublichen 4:4 vom vergangenen Freitagabend, schwindet meine Begeisterung für diese Aktion kein bisschen, weil sie stellvertretend für das Spiel dieser Dortmunder Mannschaft steht. Für eine Mannschaft, die sich zu keinem Zeitpunkt aufgibt und sich solange zerreißt, bis der Schiedsrichter abpfeift. Diese 94 Minuten, die wir im Stadion oder vor dem Fernseher erleben durften, war eine Liebeserklärung an den Fußball und an den Verein Borussia Dortmund. Wie die Mannschaft nach dem zwischenzeitlichen 2:3 hat erkennen lassen, dass sie dieses Spiel unter gar keinen Umständen verloren wird, war schlicht weg sensationell. Genau dieser Wille und diese Bereitschaft, alles zu geben, ist das, was die Menschen hier sehen möchten und auch so wertschätzend anerkennen.

Achterbahnfahrt der Gefühle

Zusehen zu dürfen, mit welch einem Enthusiasmus die über 80.000 Zuschauer das Westfalenstadion in den entscheidenden Minuten in einen wahren Hexenkessel verwandelt haben, war zutiefst beeindruckend. Diese sekündlich immer lauter werdenden Schlachtrufe haben Mannschaft und Fans am Freitag so eng zusammenwachsen lassen, wie ich es in über 20 Jahren, in denen ich mich nun mit Borussia verbunden fühle, nicht erlebt habe. Nie im Leben hätte ich es für möglich gehalten, dass die elf tapferen Stuttgarter sich gegen diese Wand noch einmal aufbäumen könnten und ein weiteres, viertes Tor erzielen würden. Niemals. Niemals – bis zu dem Moment zwischen Christian Gentner und dem IKEA-Teppich, als auch ich realsieren musste, wie brutal dieser Sport sein kann. Wie er uns Zuschauer alle paar Tage mit auf eine Achterbahnfahrt der Gefühle nimmt und zwischendurch einfach weiterrast und einen nicht loslässt. Runde für Runde, Looping für Looping.

Mit großer Gelassenheit zur Meisterschaft

Erst da wird einem bewusst, dass wir genau dafür ins Stadion gehen. Für diese eine unglaubliche 94. Spielminute und jeden weiteren geschichtsträchtigen Moment, in dem für uns Fans die Welt zu einer Scheibe in der Größe eines Fußballplatzes wird.

Wahrscheinlich sind es genau solche Momente, an denen Du Dir für eine Nanosekunde wünscht, das alles mit der nötigen Distanz eines neutralen Zuschauers anschauen und genießen zu können, die die Verbundenheit noch stärker werden lässt. Und weil diese Verbundenheit zum Fußball keine andere deutsche Mannschaft derzeit so ausgiebig lebt wie eben der BVB, bin ich mir seither so sicher wie noch nie in dieser Saison, dass die Meisterschale im Mai in die Vitrine von Borussia Dortmund wandert.

Nicht etwa, weil Fußball auch nur im Ansatz gerecht ist. Nein! Sondern weil Marcel Schmelzer nur einer von elf Borussen war, die diesem einen Ball noch hinterherrannten. Den weiteren Top-Spielen sehe ich daher mit großer Gelassenheit entgegen. Bayern-Hype hin oder her.

(Christoff Strukamp – die-kirsche.com)