Essen. Der frühere Top-Schiedsrichter Wolfgang Stark verteidigt Felix Zwayer gegen BVB-Kritik – und erklärt die Fehlerquellen beim VAR.

Wolfgang Stark weiß, wovon er redet. In 345 Bundesligaspielen kam er als Schiedsrichter zum Einsatz, öfter als jeder andere. Er pfiff bei Welt- und Europameisterschaften, inzwischen aber hat er die Seite gewechselt: Der 52-Jährige ist Schiedsrichter-Experte bei Amazon Prime Video, auch im Champions-League-Spiel von Borussia Dortmund gegen Besiktas Istanbul (Dienstag, 21 Uhr). Der BVB hat sich zuletzt oft über Schiedsrichterentscheidungen geärgert, in der Liga wie in der Champions League. Höchste Zeit also für ein Gespräch über gute und schlechte Pfiffe, das Wirken des Video-Assistenten – und das Verhalten der Spieler.

Wie geht es einem Schiedsrichter, wenn er nach einem Topspiel derart im Mittelpunkt und in der Kritik steht?

Wolfgang Stark: Das ist natürlich nicht so angenehm. Es gibt dann Schiedsrichter, die nehmen zwei, drei Tage keine Zeitung in die Hand und lesen nichts – und es gibt andere, die alles lesen wollen, um das zu verarbeiten.

Wie haben Sie es gehalten?

Stark: Ich wollte immer alles lesen. Das hat mir geholfen, das Ganze einzuordnen und zu verarbeiten. Aber der Familie habe ich auch mal den Tipp gegeben: Lest mal die nächsten zwei Tage keine Zeitung. Aber die Frau geht einkaufen, die Kinder gehen in die Schule – und dann werden sie damit konfrontiert, obwohl sie mit dem Thema nichts zu tun haben.

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Aktuell steht Felix Zwayer in der Kritik. Wie bewerten Sie seinen Auftritt im Topspiel?

Stark: Jochen Drees, der DFB-Projektleiter für den Bereich Video-Assistent, hat dazu ja schon ein Interview gegeben und eigentlich alles auf den Punkt gebracht. Da gibt es von meiner Seite eigentlich nichts zu ergänzen.

Er hat die Elfmeter-Entscheidungen als nachvollziehbar und regeltechnisch korrekt eingestuft – das sehen Sie also auch so?

Stark: Natürlich waren es schwierige Szenen. In der ersten Szene, dem nicht gegebenen Elfmeter an Marco Reus, ging in der öffentlichen Diskussion die knappe Abseitsstellung von Erling Haaland in der Entstehung unter. Hätte Felix Zwayer den Strafstoß gegeben, hätte sich der VAR einschalten müssen und der Elfmeter wäre zurückgenommen worden. Wäre diese Abseitsstellung ein wenig deutlicher gewesen und der Assistent hätte die Fahne schon gehoben, hätte es die Diskussionen gar nicht gegeben.

Das allerdings wurde vom DFB weder direkt nach der Entscheidung oder nach Spielende kommuniziert – und diese fehlende Kommunikation oder Transparenz ist einer der größten Kritikpunkte am VAR.

Stark: Das Problem an der Szene ist einfach, dass die Abseitsstellung so knapp war, dass sie für den Assistenten kein Thema war. Und der VAR hätte sie erst aufgegriffen, wenn es zu einem Strafstoß gekommen wäre. Weil er aufgrund der Fernsehbilder Zwayers Entscheidung unterstützen konnte, gab es gar keinen Anlass mehr, auf Abseits zu prüfen. Natürlich hätte man das im Nachgang detaillierter auflösen können, dann hätte man so manche Diskussion vielleicht gar nicht gehabt. Aber weil es so komplex ist, ist man vielleicht nicht sofort darauf gekommen. Dies ist aber im Nachgang des Spieles nicht die Aufgabe vom VAR, sondern von den Fernsehanstalten.

So kannte man ihn jahrelang in der Fußball-Bundesliga: Wolfgang Stark als Schiedsrichter.
So kannte man ihn jahrelang in der Fußball-Bundesliga: Wolfgang Stark als Schiedsrichter. © dpa

Die Dortmunder ärgerten sich darüber, dass beide strittigen Entscheidungen gegen sie liefen und dass Felix Zwayer nur in einer zum Bildschirm ging, um seine Wahrnehmung zu überprüfen. Jochen Drees hält dies wegen der großzügigen Linie Zwayers vor dem Handspielpfiff für nachvollziehbar. Sie auch?

Stark: Man muss schon die Faktenlage bei dieser Szene ganz klar herausstellen. So wie die Situation abgelaufen ist, so wie der Arm von Mats Hummels zum Ball geht, ist das Handspiel den Regeln nach strafbar. Mir wäre natürlich lieber gewesen, der Felix Zwayer hätte es sofort auf dem Spielfeld erkannt und auf Strafstoß entschieden, dann hätte es auch weniger Diskussionen gegeben. Aber er hatte eben diese Wahrnehmung nicht. Und dafür ist der VAR eben als Unterstützung da. Und die Bilder waren so klar und deutlich, da konnte Felix Zwayer gar nichts anderes machen, als auf Strafstoß zu entscheiden.

Es gab im Nachgang heftige Kritik, Jude Bellingham brachte noch einmal Zwayers Verwicklung in den Wettskandal um Robert Hoyzer ins Gespräch. Wie finden Sie das?

Stark: Darauf möchte ich gar nicht eingehen. Da läuft ja jetzt ein Sportgerichtsverfahren. Die Aussage war mit Sicherheit nicht glücklich gewählt und aus meiner Sicht auch nicht passend. Den Rest müssen die Beteiligten klären.

Dennoch ist das Thema für den DFB ja schwierig. Ihr früherer Kollege Manuel Gräfe hat klar gesagt: Wer schon einmal Geld angenommen hat, sollte keinen Profifußball pfeifen. Wie sehen Sie es?

Stark: Ich bin da relativ neutral.

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Da kommt also der Schiedsrichter durch.

Stark: Genau. Das haben die Instanzen beim DFB entschieden. Ich habe eine persönliche Meinung dazu, aber die behalte ich lieber für mich. Das liegt weit in der Vergangenheit. Felix Zwayer ist inzwischen rehabilitiert. Ob das, was er damals gemacht hat, in Ordnung war, muss jeder selbst entscheiden.

Dann blicken wir weiter auf die Ereignisse auf dem Platz. Der BVB war zuletzt öfter mal nicht glücklich mit Schiedsrichter-Entscheidungen – und die eklatanteste war wohl der Platzverweis gegen Mats Hummels gegen Ajax Amsterdam, als er zwar riskant grätscht, seinen Gegner aber eigentlich nicht richtig trifft.

Stark: Aus der Perspektive, die der Schiedsrichter hatte, kann man im ersten Eindruck darauf kommen, dass das Foul so heftig war, dass eine Rote Karte gerechtfertigt ist. Das ändert sich aber, wenn man die Bilder genauer ansieht. Hummels grätscht seitlich an dem Spieler vorbei. Er bringt ihn zwar zu Fall, aber es war kein brutales Foul. Es war ein rücksichtsloses Foul, somit wäre Freistoß und Gelb die richtige Entscheidung gewesen.

Warum greift dann der Video-Assistent nicht ein?

Stark: Die Frage habe ich mir auch gestellt. Eigentlich sind die Bilder ganz klar. Und dann ist der Vorgang in solchen Szenen immer der gleiche: Der Schiedsrichter beschreibt dem Video-Assistenten die Szene. Und decken sich die Fernsehbilder mit dieser Beschreibung, hat der Video-Assistent keinen Grund, einzugreifen. In diesem Fall aber können sich die Bilder in keiner Weise mit der Wahrnehmung des Schiedsrichters gedeckt haben. Und das ist genau ein Beispiel, in dem der Video-Assistent dem Schiedsrichter mitteilen muss: Der Spieler rutscht seitlich vorbei, es ist kein böser Treffer mit den Stollen im Bereich Wade oder Knie. Schau es dir noch einmal an. Es war zwar eine hohe Intensität, aber kein Trefferbild, das eine Rote Karte rechtfertigt. Das wäre der optimale Ablauf gewesen.

Können unter Zeitdruck auch mal die besten Perspektiven durchrutschen?

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Stark: Das kann passieren. Neben dem VAR sitzen zwei Operator. Die sind dafür verantwortlich, so schnell wie möglich die optimalen Bilder zur Verfügung zu stellen. Und denen kann natürlich mal etwas durchrutschen. Und vielleicht haben sie auch mal eine Kameraposition nicht auf dem Schirm, die die Szene noch besser aufgelöst hätte. Dann fällt man als VAR eine Entscheidung und sagt: Da greife ich nicht ein, die Bilder sind nicht eindeutig. Und da sind dann die Fernsehanstalten im Vorteil, die können zehn Minuten später noch eine frische Zeitlupe hervorkramen.

Die Zeit hat der VAR nicht.

Stark: Wenn der Schiedsrichter auf dem Spielfeld 30 Sekunden auf eine Information warten muss, klingt das nicht lang. Aber für den Schiedsrichter auf dem Platz ist es eine Ewigkeit. Aber manchmal braucht es eben Zeit, noch zwei, drei Kameraperspektiven heranzuziehen, um eine Szene optimal zu beurteilen. Und da ist die Vorgehensweise bei der Uefa sehr gut. Sie sagt: Egal, wie lange der Check dauert – es soll unter dem Strich die richtige Entscheidung herauskommen. Und so ähnlich hält es auch der DFB. Mir ist aber noch ein anderes Thema wichtig.

Bitte.

Stark: Wir müssen dahin kommen, dass die Entscheidungen der Schiedsrichter von den Spielern stärker akzeptiert werden. Ich vergleiche das immer gerne mit Handball oder Eishockey. Da gibt es das nicht, dass drei, vier Spieler auf den Schiedsrichter zulaufen und reklamieren. Das Verhalten bei Strafstoß-Entscheidungen ist mir ein echter Dorn im Auge. Die Spieler wissen doch, dass es überprüft wird – warum müssen sie dann zum Schiedsrichter hinlaufen? Der Spielführer kann ja hingehen und sich die Szene erklären lassen. Dann hätten wir nach außen ein viel positiveres Bild – auch für die Amateurklassen.

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Im Handball oder Eishockey greifen Schiedsrichter bei Meckern aber auch härter durch. Das wird vom DFB immer wieder angekündigt, aber nie lange durchgezogen. Wünschen sie sich resolutere Schiedsrichter – so wie es Deniz Aytekin kürzlich machte, als er Mahmoud Dahoud wegen Abwinkens mit Gelb-Rot vom Platz stellte?

Stark: Das war vielleicht nicht das optimale Beispiel. Deniz Aytekin würde diese Gelbe Karte für eine ähnliche Szene heute wohl nicht mehr geben. Alles muss mit Maß und Ziel erfolgen. Niemand will, dass der Schiedsrichter nach einer Strafstoßentscheidung fünf Spieler verwarnt, die mit seiner Entscheidung nicht einverstanden sind. Sonst spielen wir am Ende mit sieben gegen sieben. Wenn aber mehrere Spieler auf den Schiedsrichter zustürmen, sollte er denjenigen verwarnen, der am aggressivsten war oder der Anführer der Gruppe. Ich will nicht, dass nur mit Gelben Karten hantiert wird. Aber wir müssen schon deutlich machen, dass diese ganzen Reklamationen nichts bringen und nicht gewünscht sind. Bei internationalen Spielen sieht man das auch viel seltener – weil die Spieler wissen, dass sie schon nach der dritten Gelben Karte gesperrt sind und nicht erst nach der fünften.