München/Essen. Marcel Reif wird am 25. Mai das Champions-League-Finale zwischen Borussia Dortmund und Bayern München für den Bezahlsender Sky am Mikrofon sitzen. Der Chef-Kommentator der Unterföhringer spricht im Interview über den Favoriten im Finale, ein “Loser-Gen“ der Bayern und Fußballromantik. Über Kritiker wollte Reif in diesem Gespräch nicht mehr reden: “Ich habe einfach keine Lust mehr, dauernd dasselbe zu erzählen.“

Herr Reif, was erwartet Fußball-Deutschland am 25. Mai in Wembley?

Marcel Reif: Wir werden etwas erleben, was es noch nicht gegeben hat. Es passiert etwas Einzigartiges in London – sowohl in der Rückschau als auch mit Blick in die Zukunft. So etwas wird wohl so schnell nicht wieder geschehen. Das lehrt die Erfahrung. Das ist das eine. Das andere ist: Uns erwartet richtig guter Fußball.

Sie widersprachen vor den Halbfinal-Rückspielen von Bayern gegen Barcelona und Dortmund gegen Real denjenigen, die diese deutschen Erfolge als Wachablösung Spaniens an der europäischen Fußballspitze sahen.

Reif: Ich sagte damals, es ist keine Wachablösung – noch nicht. Das geht mir etwas zu schnell, denn Wachablösung ist etwas Grundsätzliches, was eine gewisse Nachhaltigkeit bedingt. Und soviel Respekt sollten wir den Spaniern und vor allem Barcelona noch entgegen bringen.

Warum?

Reif: Die haben ein halbes Jahrzehnt Europas Fußball dominiert, und das muss man erst mal knacken. Aber was wir gerade erleben, ist auch nicht bloß eine Momentaufnahme. Die Champions League kann man heutzutage nicht mal eben durchspielen. Mit den Vorrunden und Gruppenphasen setzt sich am Ende die Qualität durch. Und nicht der Zufall. Wenn wir da jetzt eine Nachhaltigkeit hinbekommen, unterschreibe ich das mit der Wachablösung.

Was bedeutet dieses Finale generell für den deutschen Fußball?

Reif: Lassen Sie uns mal abwarten, was das generell für den deutschen Fußball bedeuten kann – und dann auch für die Nationalmannschaft. Für den Vereinsfußball erleben wir die Belohnung und die Krönung für die Arbeit, die in der gesamten Bundesliga gemacht wird. Und damit meine ich nicht nur die beiden Finalisten Bayern und Dortmund, sondern vom kleinsten und gemeinsten bis rauf zum Kapitän. Die Bundesliga verhält sich nach dem Darwin-Prinzip: Die Großen kaufen die Guten von den Kleinen – aber die Spieler dort müssen ja auch erst mal auf die Qualität gebracht werden. Und zu unterstreichen ist, dass das insgesamt alles auf einem finanziell gesunden Fundament stattfindet, was so in Europa einzigartig ist.

England hat die Scheichs, Italien kaum noch Zuschauer...

Reif: In Spanien, das habe ich kürzlich gelesen, sind 28 Klubs in der Insolvenz. Valencia kann beispielsweise das Stadion nicht zu Ende bauen. Und wenn die keine Unterstützung von der Stadt bekommen, sind die pleite – im ganz schlichten Sinne von: Pleite!

Wird die Bundesliga davon nachhaltig profitieren und werden die Cristiano Ronaldos, Rooneys und Messis dieser Welt bald in Deutschland spielen?

Reif: Es wird aktuell gemeldet, dass das brasilianische Wunderkind Neymar vom FC Santos nicht etwa bei Barcelona oder Real Madrid sondern beim FC Bayern unterschreiben wird. Vor einem Jahr hätte ich noch gesagt: ‚Kinder, wovon träumt ihr eigentlich nachts?’. Jetzt sage ich: ‚Ja, logisch! Wenn Guardiola sagt, der passt…’.

Also kommt die nächste Generation der Superstars definitiv nach Deutschland?

Reif: Wenn die Ronaldos und Messis keine romantische Bindung zu ihren Vereinen haben und sie sich auf die ganz normale Reise im Fußballgeschäft begeben, ist Deutschland eine mindestens genauso veritable Station wie andere auch.

Wenn wir uns wieder dem Finale zuwenden: Wer hat denn Ihrer Meinung nach die größere Chance auf den Titel?

Reif: Bayern. Ich glaube, Bayern ist, wenn man alles zusammenrechnet, den Tick stärker in dieser Saison. Aber in so einem Finale geht es von Null los und die Saison spielt keine Rolle mehr.

Und Borussia Dortmund?

Reif: Es gibt viele Gründe, die auch für den BVB sprechen. Es ist ein Luxusspiel für sie. Die Saison war für Dortmund nicht so furchtbar lustig, der Rückstand auf den Meister beträgt 22 Punkte. Das können sie nicht gut finden. Das ist eine absurde Distanz.

Die Spielzeit des BVB ist dennoch vorzeigbar.

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Reif: National war die Saison der Borussia meinetwegen ganz okay, international war sie fantastisch, überragend, und sie können sie in Wembley zu einer historischen Saison machen.

Das wäre für Bayern München eine Katastrophe.

Reif: Die Bayern können eine Saison, die es selbst für den Rekordmeister so wahrscheinlich nie wieder geben wird, mit einer Niederlage und der ganzen Vorgeschichte mit den dann verlorenen drei Finals nacheinander sehr, sehr beschädigen. Das wird man in München zwar abstreiten, aber das ist so. Aus dem „Mia san mia“, dem Sieger-Gen, würde dann ein Loser-Gen in der Champions League. Eine Niederlage gegen Dortmund wäre unerträglich für die Bayern.

Reif über Mario Götze: "Er wird sich überhaupt keinen Kopf machen" 

Gibt es mit diesem Hintergrundwissen Nuancen, dass Sie es einem der beiden Vereine mehr gönnen?

Reif: Wenn ich dazu wirklich eine Meinung hätte, wäre ich erstens unprofessionell und zweitens bescheuert. Ich könnte so doch meine Arbeit gar nicht vernünftig machen. Diese Schubladen überlasse ich gerne den Fans - denen in Dortmund auf der einen Seite und denen in München auf der anderen. Damit bin ich bisher ordentlich gefahren.

Parteilichkeit lassen Sie sich also nicht nachsagen?

Reif: Ein bisschen anders wäre es, wenn der 1. FC Kaiserslautern im Finale stünde, das bete ich immer wieder daher. So spielt Lautern aber zwei andere Endspiele und da werde ich mit heißem Herzen am Fernseher sitzen. Ansonsten gibt es niemanden, der Borussia Dortmund und Bayern München mehr schätzt als ich. Jeden auf seine Art. Großartig. Ich freue mich einfach auf das Spiel. Spiel’st auf, Freunde.

Was sagen Sie zum Duell zwischen Jürgen Klopp und Jupp Heynckes?

Reif: Unterschiedlicher kann man nicht sein. Sie eint allerdings die Hingabe bis zur Selbstaufgabe in diesem Sport. Und das braucht es auch, um dahin zu kommen, wo sie jetzt sind. Jeder ist aber auf seine Art einzigartig – es gibt zum Glück keine Blaupause für erfolgreiche Trainer.

Und beide hätten den Titel verdient.

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Reif: Um auch noch mal auf die vorhergehende Frage zu kommen: Wenn Sie mich jetzt fragen würden, gönnen Sie es jemanden besonders – aus der menschlichen Perspektive – dann wäre das Jupp Heynckes. Und das hat nichts mit den Bayern zu tun. Jupp Heynckes schätze ich als Trainer, aber vor allem als Mensch über die Maßen. Es wird sein vorletztes großes Spiel sein und mit so einem Erfolg abzutreten, wäre ihm gegönnt. Ich unterstreiche aber noch mal, damit sage ich nicht: „Hoffentlich gewinnt der FC Bayern“ – lange davor ist Schluss.

Zwei Personalien machen das Finale in Wembley zusätzlich spannend. Mario Götze, der nach der Saison vom BVB zum FC Bayern wechselt…

Reif: So ist das Leben und so ist das Geschäft. Ich kann nicht beurteilen, ob der Transfer in allen Facetten stilvoll über die Bühne gegangen ist oder nicht. Dafür bin ich zu weit weg. So ein Wechsel ist auf unserem Planeten aber das Normalste der Welt.

Wie viel Fußballromantik…

Reif: So viel Sie wollen. Niemand sehnt sich nach mehr Fußballromantik als ich. Ich nehme alle Fußballromantik, die ich kriegen kann…

Wie viel Fußballromantik und Fantasie braucht es, sich vorzustellen, dass Mario Götze das entscheidende Tor im Endspiel schießt?

Reif: Dafür brauche ich ganz wenig Fantasie. Achtung: Phrasen und bitte in Großbuchstaben: Im Fußball ist alles möglich. Wahlweise auch: Der Fußball schreibt die schönsten Geschichten. Und da jetzt Dinge reinzuinterpretieren, wäre falsch. Ich wette, dass sich Götze überhaupt keinen Kopf macht. Dass er professionell mit der Situation und mit Druck umgeht, hat er im Spiel gegen Madrid bewiesen. Und sollte er das entscheidende Tor im Finale schießen, wechselt er zur kommenden Saison trotzdem nach München, und dann werden die Bayern wieder versuchen, Europas Thron zu besteigen – mit Götze.

Irgendwie wäre es doch kurios.

Reif: Die Geschichte würde irgendwann mal vielleicht zur Legendenbildung taugen; dann aber in schwarz-weiß mit der Bildzeile: Weißt du noch damals…? Das hat jetzt auch mit Romantik nichts zu tun. Es wäre aber großes Kino.

Die andere Person ist Bayerns Präsident Uli Hoeneß…

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Reif: Ich habe mich in den vergangenen Wochen dazu kaum geäußert und mache das auch jetzt nur ungern, denn das verbietet sich angesichts der Kenntnislage der Fakten. Uli Hoeneß wird sich für das verantworten müssen, was er falsch gemacht hat. Und er darf sich für das feiern lassen, was er gut und richtig gemacht hat. Er ist ein Mensch wie jeder andere und Menschen machen Fehler, sündigen. Der Titelgewinn in London wäre für Uli Hoeneß eine Krönung seiner Arbeit. Die Niederlage beim „Finale dahoam“ war auch für Hoeneß traumatisch.

Marcel Reif muss "den Verlierer in Wembley würdigen" 

Wie sieht denn Ihre Vorbereitung für das Finale aus? Sie sind so lange im Geschäft, schütteln Sie das einfach aus dem Ärmel?

Reif: Ich könnte jetzt kokettieren und erzählen, ‚ich muss ungeheuer viel lesen und so...’. Aber: es ist Dortmund gegen Bayern – in Bestbesetzung. Da wäre es doch Wahnsinn, wenn Sie mich nachts um 3 Uhr wecken würden, und ich könnte Ihnen nichts über das Spiel erzählen. Was soll es geben, dass ich über Dortmund und Bayern nicht weiß, wenn man es wissen kann? Dann hätte ich meinen Job verfehlt.

Also bereiten Sie sich gar nicht explizit auf das Spiel vor?

Reif: Natürlich muss ich mich ein bisschen damit beschäftigen, was um dieses Finale herum alles stattfindet. Eine Sache ist allerdings anders: Ich muss den Verlierer mehr würdigen. Würde der BVB oder Bayern gegen eine andere europäische Mannschaft spielen und gewinnen, sage ich artig ein paar Worte über den Verlierer und feiere dann als deutscher Reporter in einem deutschen Sender, für ein deutsches Publikum mit dem deutschen Sieger. Hier gibt es aber auch einen deutschen Verlierer, und da muss ich mir tatsächlich im Vorfeld ein paar Gedanken machen: „Was wird den Bayern gerecht, obwohl sie verloren haben?“ beziehungsweise „wie würdige ich Dortmund trotz der Niederlage?“

Ist es denn etwas Besonderes für Sie, das x-te Finale zu kommentieren?

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Reif: Ich habe in den vergangenen Jahren gemerkt, dass etwas an diesem Endspiel in der Champions League doch anders ist, als bei anderen Spielen: die Wertigkeit. Man setzt sich gerader hin, zieht sich den teuren Anzug an und bindet sich die Krawatte noch sorgfältiger. Das ist eine Grundhaltung.

Hat sich Ihre Arbeit im Laufe der Jahrzehnte verändert?

Reif: Nein, glaube ich nicht. Das Bohei im Umfeld von Fußballspielen ist sehr wohl mehr und lauter geworden. Aber ich behaupte, und das mit sehr gutem Recht, dass ich den Job immer noch nach denselben Kriterien und mit demselben handwerklichen Herangehen mache wie eh und je. Im Gegenteil: Wenn ich merke, dass ich das nicht mehr mache und mich ein Spiel nicht mehr berührt und fordert, muss ich mir Gedanken machen.

Gibt es Kommentatoren-Kollegen, die Sie inspirieren?

Reif: Wie soll ich die hören? Wann?

Naja, Sie gucken sich ja sicherlich hier und da mal ein Spiel an, das Sie nicht als Reporter begleiten…

Reif: … und dann höre ich nicht hin. Nie. Das können Sie mir jetzt glauben oder nicht. Es sei denn, ich soll mir mal jemanden bewusst anhören, weil ich darum gebeten werde. Es wäre auch ein bisschen viel verlangt, wenn ich mich heute noch inspirieren lassen wollte. Ich glaube, dazu ist man im Alter nicht mehr ausreichend aufnahmefähig für externe Einflüsse. Ich bin so wie ich bin. Das wird und sollte jeder Reporter ähnlich sehen. Ich gucke übrigens so wenig Fußball wie möglich, weil ich so viel Fußball gucken muss, dass ich sonst mein Leben nicht weiterführen könnte. Und mein Leben ist mir, neben dem Fußball, äußerst wichtig.