Mainz. Gegen die Russen sind die nationalen Fußballtugenden wieder gefragt. Weil es um Entscheidendes geht. Die Deutschen wissen: Seit 1954 haben sie nie eine Weltmeisterschaft verpasst.

Zu einem anderen Zeitpunkt wäre die Botschaft wahrscheinlich froh aufgenommen worden. Eine neue Bank für Deutschland. Welch eine Nachricht! Eine neue Bank! Gut, es handelte sich lediglich um 21 Sitzplätze in seriösem Hellgrau für Spieler und Entourage der Nationalmannschaft, aber wenn die Krise eine Branche so durchgeschüttelt hat, dann ist man gewöhnlich schon dazu bereit, jedes winzige Lebenszeichen mit springenden Korken zu feiern. Im Mainzer Rheingoldsaal jedoch warteten selbst die wohlerzogenes Interesse heuchelnden Sportjournalisten am gestrigen Dienstag klammheimlich nur darauf, dass Joachim Müller bei der öffentlichen Übergabe der Commerzbank-Bank an die bedeutendste Männergruppe der Republik endlich zu einem Ende finden würde.

Hätte der Regionalvorstand des Finanzinstitutes seine Selbstzweifel („Was sie sich bestimmt nicht fragen werden, ist: Wie sieht eigentlich die Bank aus, auf der künftig der Trainer sitzt?”) nur etwas anders ausgedrückt, wäre ihm allerdings schon mehr Aufmerksamkeit entgegen gebracht worden. Wie sieht eigentlich der Trainer aus, der künftig auf dieser Bank sitzt? Das ist eine Frage, die auch stoische Gemüter bewegt. Beim Auftritt der Nationalelf am Samstag im Moskauer Luzhniki-Stadion (17 Uhr MESZ, ZDF) leuchtet nämlich das rote Lämpchen, das die Gefahrenstufe eins signalisiert. Wird gegen die Russen gewonnen, darf WM-Quartiermacher Oliver Bierhoff für den kommenden Sommer eine Luxusherberge nahe dem südafrikanischen Johannesburg anmieten. Wird nicht gewonnen, ist noch nicht alles verloren. Es wird dann nur kompliziert.

Historisch bedeutungsreiche Tage

Vor einem dieser historisch bedeutungsreichen Tage kann den Deutschen ein Blick ins Geschichtsbuch stärken, ins Fußballgeschichtsbuch, dieses Buch, das sehr viel Geglücktes enthält. Nie wurde sportlich eine Weltmeisterschaft verpasst. Seit 1954 hat Deutschland als einzige Nation neben Brasilien keine WM verfehlt. Erst zwei WM-Qualifikationsspiele wurden nicht mit einem Sieg abgepfiffen. Auswärts wurde überhaupt noch nie einem Gastgeber ein Geschenk überreicht.

Joachim Löw ist ein geschichtsbewusster Bundestrainer. Er weiß das alles vorzutragen. Und sein Kapitän, Michael Ballack, spürt sie auch, die Kraft, die aus der Vergangenheit erwächst.

In der Rheingoldhalle präsentierten sich die meist beachteten Sprachrohre der nationalen Auswahl gemeinsam den Journalisten. Das passiert selten. Auch das war ein Zeichen dafür, dass Großes bevorsteht. Und das auf Kunstrasen, ausgerechnet. Einen Triumph nach einer Abnutzungsschlacht auf schneeweichem Schlammrasen kann man sich doch vorstellen, wenn es gegen die Russen geht, aber: Kunstrasen? Wirkt der nicht irgendwie beängstigend? Nein, hat der Bundestrainer nach der ersten Trainingseinheit auf Mainzer, na ja, Kunstrasen noch einmal versichert. Und, nein, hat auch Ballack abgewiegelt. Man übe schön, außerdem rolle der Ball auf der ebenen Fläche ganz fein, und wichtiger sei ohnehin „die deutsche Mentalität”. Diese Ernsthaftigkeit, diese Fähigkeit zur Konzentration, diese Zielfixierung, die die Aufnahme ins Genmaterial längst geschafft haben müsste: „Wir haben es, wenn es darauf ankam, immer wieder geschafft, die richtigen Ergebnisse zu erzielen.”

Selbst bei einer Niederlage bliebe das Licht noch an

Zur korrekten Einordnung: Bei einem Remis, selbst bei einer Niederlage würde das Licht noch nicht ausgeknipst. Deutschland führt die Qualifikationstabelle mit einem Punkt Vorsprung an. Am Mittwoch nach der Begegnung im kühlen, aber frostfreien Moskau wird in Hamburg noch gegen die Finnen gespielt. Russland muss noch gegen Aserbaidschan antreten. Ein Platz in der Relegation ist schon gesichert. Ballack, der 33-jährige Star vom FC Chelsea, wird also im Schadensfall nicht spontan auf die Rentnerbank wechseln und in Londons Hyde-Park die Eichhörnchen mit Nüssen versorgen. Und Löw muss nicht sofort um den Arbeitsplatz bangen, wenn dieses allgemein zum wichtigsten des Jahres erhobene Spiel nicht mit einem Seufzer der Erleichterung abgehakt werden können sollte. Noch ist ein übles Szenario nur denkbar, noch ist die nationale Nervosität nur eine vorweggenommene, noch ist ein WM-Aus mit dann unweigerlich folgendem russischen Personalroulette nur eine Horrorvision.

Löw und Ballack reagierten als Schicksalsgemeinschaft darauf blitzsauber abgestimmt deutsch. Der eine, Löw, betonte die akribische Vorgehensweise („Selbstverständlich sind wir über den Gegner bis ins kleinste Detail informiert”), der andere, Ballack verkündete: „Ich gehe voran.” Dass der Kapitän dabei gelächelt hat, dürfte auf britische Einflüsse zurückzuführen sein.