Warschau. Berechenbar verliert die einst “golden“ genannte Generation des deutschen Fußballs wichtige Spiele - wie 2012 das EM-Halbfinale gegen Italien. „Es gibt nun mal keine Garantie für den Titel“, sagt Philipp Lahm, der Kapitän der Nationalmannschaft.
Auf den verwaisten Rängen des Warschauer Nationalstadions wird schon der Unrat zusammengekehrt, fleißige Menschen pflegen liebevoll den ramponierten Rasen. Es ist weit nach Mitternacht, als Philipp Lahm in das gleißend helle Licht tritt, das seinen Weg hinaus aus dem Stadion ausleuchtet. Immerhin: Das Schrillen einer Sirene im Erdgeschoss der Arena ist verstummt. Es wirkte wie die Titelmelodie dieses Auszugs der deutschen Nationalmannschaft aus der EM.
Lahm sieht niedergeschlagen aus, seine Augen sind gerötet. Er ist nicht der Einzige, dem dieses 1:2 im Halbfinale gegen Italien schwer an die Substanz geht. Thomas Müller und Mario Gomez weinten noch auf dem Platz bittere Tränen der Enttäuschung. „Es gibt nun mal keine Garantie für den Titel“, sagt Lahm. Er ist der Kapitän der Mannschaft. Er ist seit Jahren eine ihrer wichtigsten Figuren. So wie auch Bastian Schweinsteiger und Lukas Podolski. Sie alle debütierten 2004, sie alle ließen die Fußball-Nation spätestens ab der WM 2006 vom ganz großen Wurf träumen.
Zweifel sind angebracht
Sie sind die Frontfiguren der einst golden genannten Generation. Doch erneut langte es für sie nicht zum Titel. Im kommenden Jahr wird Philipp Lahm 30 Jahre alt. Die Alarmglocken dieser Generation klingen wie die Sirene im Stadion. Und die Öffentlichkeit beginnt sich nicht erst jetzt zu fragen, wie golden eine Generation sein kann, wenn sie sehr zuverlässig die entscheidenden Spiele verliert.
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„Ich habe gehört, dass Deutschland noch nie gegen Italien gewonnen hat, also kann es nicht nur an unserer Generation liegen“, sagt Lahm. Wieder ist die Mannschaft gescheitert, wieder mal vollkommen verdient, weil der Gegner besser, schneller, cleverer, gewillter war. Wie 2006 im WM-Halbfinale, wie 2008 im Finale, wie 2010 im Halbfinale. Reichlich Blech für die Hoffnungsträger von einst.
Um sie und Miroslav Klose (34) sowie Per Mertesacker (27) sollte Großes aufgebaut werden. Manche Spiele waren bezaubernd schön, aber im entscheidenden Moment fehlt das, was Größe ausmacht. Mag sein, dass es Pech ist, dass die aussichtsreichste Schaffensperiode dieser Generation mit der Ära der scheinbar unschlagbaren Spanier zusammenfällt. Dennoch sind Zweifel am Ausmaß der Außergewöhnlichkeit angebracht.
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Zu gewöhnlich sind die Leistungen von Lukas Podolski, wenn es wirklich darauf ankommt. Gegen Italien tauchte er vollkommen ab, aus München flüchtete er, weil er Köln vermisste. Nun versucht er nach dem Abstieg mit dem FC seiner Karriere bei Arsenal London noch Blattgold zu verleihen. Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger haben mit den Bayern nationale Trophäen angehäuft, die für zwei Karrieren reichen würden. Doch alle internationalen Titel tragen bei ihnen das Wort Vize als Vorsilbe. Zwei verlorene Finals in der Champions League sind unter Erfolge aufgelistet.
„Das ist Sport. Ich bin Realist. Mal gewinnt man, mal verliert man“, sagt Lahm in Warschau. Aber was ist, wenn es immer die anderen sind, die am Ende gewinnen? Wie viel Zufall kann das sein? Wie viel Pech?
Der Bayern-Infekt
Mit dem FC Bayern haben der Kapitän und der Vize-Kapitän den Pfad des Erfolgs schon länger verlassen. So pflanzten sie der Nationalelf nicht – wie es früher der Fall war – das Bayern-Gen des Siegesgewissen ein, sondern übertrugen eine Art Bayern-Infekt. Denn das Italien-Spiel war ein Abbild der letzten beiden Münchner Saisons: uninspiriert, fehlerhaft und nur bis zu einem bestimmten Punkt erfolgreich. Sieben Münchner standen in der Anfangself. Darunter der malade Schweinsteiger, dessen Äußerung („Mein Knöchel macht mir Sorge“) rückblickend als missachteter Hilferuf verstanden werden kann; der stromlinienförmige Lahm, der den Weg zum 0:2 ebnete und die größte Chance zum frühen Anschlusstreffer vergab; der leidenschaftslose Toni Kroos, dessen Spiel genau ein einziges Tempo vorsieht; der abgemeldete Mario Gomez, der ohne eigenes Tor keine Bereicherung ist.
Männer, die den Unterschied ausmachen, waren nicht zu erkennen, schon gar nicht aus der Mitte derer, die einst eine Verheißung für die Zukunft waren. „Ich denke“, sagt Philipp Lahm, „dass sich einiges entwickelt hat in unserer Mannschaft und dass es sehr gut aussieht in unserer Zukunft.“
Ein Satz, der als Lob taugt für die Khediras, Özils und Götzes. Ein Satz, der aber auch ein Mahnmal sein könnte. Ein Mahnmal für das langsame Verblassen einer goldenen Generation.