Warschau. . Nach dem EM-Aus der deutschen Elf gegen Italien kamen Fragen auf. Fragen nach den Personalentscheidungen des Bundestrainers, Fragen nach der Mentalität seiner Mannschaft. Und, die Frage, ob diese Niederlage ein neues Licht auf Jogis Jungs werfen wird.

Dass sein Haus zerstört werden könnte, muss der Bundestrainer nicht befürchten. Auch nicht nach dem Scheitern an der letzten Hürde vor dem EM-Finale, auch nicht nach dem Aus gegen ein Italien, von dem vermutet wurde, es wäre noch mit dem Wiederaufbau Süd beschäftigt. Aber es war eine bittere Niederlage. Es war eine Niederlage, die Fragen aufwarf, unangenehme Fragen, Fragen, die das Haus in Verruf bringen, das Joachim Löw stilvoll restauriert, das er mit der Handschrift des bedeutenden Architekten versehen hat.

1:2 gegen die Italiener im Halbfinale von Warschau. Das erneute Kräftemessen mit Spanien in einem EM-Endspiel findet nicht statt. Nächste Chance: erst bei der WM in Brasilien, erst 2014. Dabei gestaltet Cesare Prandelli, Löws Kollege von der siegreichen italienischen Seite, den Erneuerungsprozess bei der Squadra Azzurra nach deutschem Vorbild. Nach deutschem Vorbild! Und was passiert? Deutschland ist seit acht Jahren am Werk, seit 2004. Und Prandelli speist kurz hier einen neuen Stein ein und da einen alten. Und am Ende leuchtet sein Ensemble und nicht die Nationalmannschaft.

Mangelt es an teutonischer Siegermentalität?

Auf die Fragen war der Bundestrainer vorbereitet. Schon nach der Hälfte der Spielzeit konnte er eine Vision davon entwickeln, wie es sein würde, nach dem Schlusspfiff, nach dem Zerplatzen der Traumblase. Bereits in Minute 20 hatte schließlich Mario Balotelli dem deutschen Herzen den ersten Stich versetzt. Und als das wahnsinnige Stürmertalent zum zweiten Mal das Messer zückte, in Minute 36, da war es fast schon vorbei, da war offensichtlich, dass es an diesem Abend sehr, sehr schwer werden würde, die Wende einzuleiten.

Erste Frage: Mangelt es dieser Mannschaft an teutonischer Mentalität? Mangelt es ihr an dem unbedingten Willen zum Erfolg, an der Leidenschaft, die im Notfall über die Grenzen hinaus strebt, um zu erobern, was schon lange verloren erscheint? Löw weiß, dass Zweifel aufbranden werden, dass versucht werden wird, Schuld zu verorten. „In der zweiten Hälfte“, verkündet der Bundestrainer, „hat die Mannschaft ein sehr großes Herz bewiesen.“ Und das ist seine Art der Vorwärtsverteidigung, es ist seine Art, sich dem Kontrahenten zu stellen und ihm die Argumente wegzuschlagen, bevor er sie überhaupt auf den Tisch gelegt hat. Aber: Als die Mannschaft Herz bewies, blutete dieses Herz in diesem Moment nicht bereits?

Löws Stuhl dürfte kaum wackeln

Die Vertragssituation ist klar. Bis zum Sommer 2014 soll Löw die Nationalmannschaft führen. Zumindest bis dahin. Und selbst wenn es aus dem Zirkel der Ambitionierten und der Neider aus dem eigenen Gewerbe Attacken gegen ihn geben sollte, kann er sich doch sicher sein, dass beim Deutschen Fußball-Bund niemand das Wagnis eingehen wird, ihn aus dem Amt zu stoßen. Und doch weiß der Bundestrainer auch, dass sich die Bedingungen für seine Tätigkeit verschlechtern werden. Frage zwei: Hat der Löw Fehler gemacht, hat er mit seinen Personalentscheidungen dazu beigetragen, dass Italien stark sein konnte, seine eigene Auswahl, diese Auswahl, die zuvor in 15 Pflichtpartien nie in die Knie gegangen war, aber Schwäche zeigen musste? Zwangsläufig?

Der Bundestrainer verweist auf die hohe Kunst der Italiener, auf „zwei überragend gute Stürmer“, auf Balotelli und Antonio Cassano, auf „Andrea Pirlo, den Taktgeber“. Er erklärt seinen Plan. Toni Kroos, den er so dem antreibenden Dynamo Marco Reus und dem kaum fassbaren Raumdeuter Thomas Müller vorgezogen hatte, sollte „die Zentrale stärken“ und Pirlo an der Entfaltung seines Genies hindern. Doch: Dieser Plan ist nicht aufgegangen. In Halbzeit zwei hat der Bundestrainer seine Personalentscheidungen revidieren müssen. Er brachte Reus für Lukas Podolski, der seinen 101. Länderspieleinsatz nach dem Durchschweigen der Nationalhymne beendet hatte. Er brachte Miroslav Klose für Mario Gomez, der die Italiener mit seiner brettharten Frisur erschrecken wollte. Er brachte Thomas Müller für Kroos, der nach einem Foul an Pirlo in der Körpersprache eines Welpen kommunizierte. Bitte schau mich nicht noch einmal so unglaublich gemein an, Andrea.

Der Druck ist stärker als je zuvor

Frage drei: Verändert das irgendetwas am Gesamtbild? Der Bundestrainer sagt: „Dieses Turnier wird von mir insgesamt positiv bewertet.“ Die Antwort aber muss dennoch lauten: Ja. Weil seinem schönen Haus weiterhin ein Dach fehlt. Und nach dem Halbfinal-Aus gegen Italien bei der WM 2006, dem Scheitern im Finale der EM 2008 gegen Spanien, dem erneuten Scheitern an Spanien im Halbfinale der WM 2010 und dem weiteren Schadensfall gegen Italien bei der EM 2012 braucht Löw die Vollendung. Einen Titel. Bei der Qualifikation für die WM 2014 wird er also stärker unter Druck stehen als jemals zuvor. Läuft es nicht sofort rund, taucht die nächste Frage auf: die nach seinem Wirken.