Essen. Der Clan von Claudia Pechstein geht nach der Doping-Sperre in die Offensive - mit Exklusiv-Interviews und etlichen Auftritten im Fernsehen. Und die alte Fehde mit Anni Friesinger lebt wieder auf.
Man muss in die Vergangenheit blicken, um den Fall Claudia Pechstein und den Menschen, der sich dahinter verbirgt, zu verstehen.
Es ist der 23. Februar 2002, bei den Olympischen Spielen in Salt Lake City stehen die 5000 Meter der Eisschnellläuferinnen auf dem Programm. Es sind die Duelle zwischen Claudia Pechstein und Anni Friesinger, die in Deutschland damals sogar die Tagesschau unter dem Begriff „Zickenkrieg" einordnet.
Pechstein ist die sprödere der beiden Athletinnen. Verkniffen, konzentriert, längst nicht so spontan wie Friesinger. Aber die Berlinerin ist in Salt Lake City die schnellere Läuferin. Über 3000 Meter hat sie schon Gold gewonnen, und an diesem 23. Februar schlägt sie Freisinger auch über 5000 Meter und gewinnt ihre zweite Goldmedaille dieser Spiele.
Das, was danach auf dem Eis passiert, ist das Erklärungsmodell für das, was an diesem Wochenende sieben Jahre später geschehen ist.
Friesinger ist die letzte Läuferin des Tages. Vor ihr hat Pechstein mit 6:46,91 Minuten einen Weltrekord aufs Eis gezaubert, an dem Friesinger scheitert und am Ende Sechste wird. Noch während Friesinger in der letzten Kurve ist, stülpt sich Pechstein eine schwarz-rot-goldene Perücke über die Haare und startet zur Ehrenrunde.
Sie trägt die Perücke noch eine Stunde nach ihrem Triumph, aber nicht nur diese Perücke wirkt aufgesetzt. Wer als Quadrat zur Welt kommt, der wird nicht plötzlich zum Kreis. Und so sagt Pechstein den Satz, der auch dem naivsten Fan die Illusion raubt: „Die Perücke ist eine Idee von meinem Management." Einer ihrer Betreuer hatte sie vor dem Rennen in den Rucksack gepackt und sie herüber gereicht, als der Sieg perfekt war.
Schrei nach Aufmerksamkeit
Es ist ein Schrei nach Aufmerksamkeit, ein Schrei nach der Liebe des Publikums. Aber auch mit der Perücke auf dem Kopf kann sie nicht aus ihrer Haut heraus. Man erlebt eine Frau, der die Gabe fehlt, der Liebling der Nation zu werden. Aber ist das schlimm?
Als an diesem Wochenende der Doping-Vorwurf gegen sie öffentlich wird, reagiert der Pechstein-Clan ähnlich wie bei dem Perücken-Jubel. Alles ist akribisch und von langer Hand vorbereitet. Am Freitag um 19 Uhr verbreitet sich die Nachricht von der Sperre in Deutschland. Schon am Samstagmittag sitzt die erfolgreichste Winter-Olympionikin aller Zeiten zusammen mit ihrem Anwalt für Exklusiv-Interviews in den Redaktionen der „Welt am Sonntag" und der „Bild am Sonntag". Sie schreibt mit einem Filzstift „Ich habe nie gedopt! Werde es auch niemals tun!" auf ein Blatt Papier. Vor diesem Zettel lässt sie sich fotografieren.
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Dann geht es für Pechstein und ihren Anwalt sofort weiter vor die Fernsehkameras, erst bei der ARD, am Abend im ZDF-Sportstudio; heute steht sie beim Bayrischen Rundfunk in der Sendung „Blickpunkt Sport" (21.45 Uhr) Rede und Antwort. Alles ist geplant und organisiert. Wird es dadurch glaubhafter?
Pechstein versucht unermüdlich, ihre Position darzustellen. Ihre Version, die sie in verschiedenen Varianten wiederholt, lautet im Kern: Ich bin unschuldig! Niemand werde Blutbeutel oder Spritzen finden, die sie belasten könnten. Auch gebe es nirgendwo einen Arzt, der als Zeuge aussagen könne.
Doch dann meldet sich die Vergangenheit aus Salt Lake City zu Wort. Dieses Mal in Person von Anni Friesinger. „Wenn sich das bewahrheitet, muss man knallhart durchgreifen", sagt Friesinger zum Fall Pechstein. „Dann ist es ein Sieg für die Doping-Kontrolleure. Ich bin eine Verfechterin des sauberen Sports."
Wie geht es nun weiter? Sicher mit einem Gang vor das oberste Sportgericht CAS.
Dorthin werden Pechsteinn und ihr Anwalt ziehen. Ihre Absicht: Der Gerichtshof in Lausanne soll die zweijährige Sperre, die der Eislauf-Weltverband ISU verhängt hat, wieder einkassieren.
Blut-Erkrankung?
Die 37-Jährige spricht von einer Blut-Erkrankung, unter der sie möglicherweise leide und die Grund für die festgestellten Unregelmäßigkeiten sei. Ärzte würden dies nun genauer untersuchen. Aber: Warum untersuchen sie erst jetzt? Pechstein weiß seit Februar von ihren Blutwerten. Und warum steigen die Blutwerte so häufig vor großen Wettkämpfen an? Auch das Zufälligkeiten, die in einer Krankheit möglich sind?
Der Doping-Experte Werner Franke schüttelt bei diesem Thema den Kopf. „Eine genetische Krankheit wäre in wenigen Tagen mit Hilfe einer DNA-Analyse erkennbar", sagt der Professsor. Und Volker Smasal, langjähriger Chef-Mediziner der Eisschnellläufer findet: „Meiner Meinung nach hat sich die ISU den sichertsten Fall herausgesucht, der nach der neuen Regel möglich war: Eine Perle und kein Blechcollier."
Trotzdem: Pechstein geht davon aus, dass sie 2010 in Vancouver bei Olympia startet. Entscheiden wird darüber der CAS-Gerichtshof – wahrscheinlich bis November.