Essen. Der Anwalt der unter Dopingverdacht stehenden Eisschnellläuferin Claudia Pechstein hat den Weltverband ISU wegen mangelhafter Informationen zu einer möglichen Krankheit kritisiert.

Trotz ihrer Doping-Sperre ging Claudia Pechstein am Montag erstmal trainieren. "Was bleibt ihr auch anderes übrig? Zum Saisonstart im Oktober will sie fit sein", sagte ihr Manager Ralf Grengel.

Störenden Fragen in der Eishalle in Berlin-Hohenschönhausen wollte die für zwei Jahre gesperrte Eisschnelllauf-Olympiasiegerin aus dem Weg gehen. Deshalb setzte sie sich aufs Rad, bevor der Flieger nach München ging, wo sie am Abend in der Sendung "Blickpunkt Sport" des Bayerischen Rundfunks ihren Verteidigungskampf fortsetzte.

ISU: Blutdoping einzige mögliche Ursache

Hinter den Kulissen ging derweil die fieberhafte Suche nach einem Ausweg weiter, Pechsteins Anwalt eröffnete die nächste Runde: Simon Bergmann begründete bislang fehlende medizinische Nachweise seiner Mandantin über eine möglichen Erkrankung, die ihren extrem erhöhten Retikulozyten-Wert erklären könnte, mit unvollständigen Informationen durch den Weltverband ISU.

"In der Anklage, die wir durch die ISU am 5. März erhalten haben, stand Blutdoping als einzige mögliche Ursache für die erhöhten Retikulozyten-Werte, von einer möglichen Erkrankung war nicht die Rede. Wir haben erst etwa eine Woche vor dem Verhandlungstermin Ende Juni erfahren, dass diese Möglichkeit besteht", sagte Bergmann dem SID: "Wir mussten uns selbst erstmal orientieren und konnten deshalb bis kurz vor der Anhörung keine eigenen Untersuchungen in die Wege leiten. Wir sind alle keine Mediziner."

Selbst der neutrale Gutachter im ISU-Prozess, der Veterinärmediziner Professor Max Gassmann aus Zürich, den Pechstein stets zu ihrer Entlastung herangezogen hatte, spricht allerdings davon, dass die Berlinerin "ihre Möglichkeiten nicht nutzen wollte".

Im Interview mit der Tageszeitung Die Welt antwortete Gassmann auf die Frage, ob er die ISU-Entscheidung nachvollziehen könne, Pechstein auf der Grundlage der vorliegenden Daten wegen Blutdopings zu sperren: "Solange kein Nachweis einer genetischen Krankheit vorliegt, ja. Die ISU hatte so gar keine andere Wahl, als Frau Pechstein wegen Blutdopings zu sperren, weil Frau Pechstein ihre Möglichkeiten nicht nutzen wollte."

Kuipers weist Vorwürfe zurück

Zudem widerspricht Harm Kuipers, der zuständige ISU-Mediziner, der am 7. Februar in Hamar während der Mehrkampf-WM die Teamleitung der Deutschen Eisschnelllauf-Gemeinschaft (DESG) über den auffälligen Bluttest informiert hat, Bergmanns Darstellung: "Wir haben Teamleiter Helge Jasch erklärt, dass wir abweichende Blutwerte festgestellt hätten, die möglicherweise im Gegensatz zum Antidopingcode stehen. Die Ursachen seien Krankheit oder Manipulation."

In der Urteilsbegründung hatte sich die ISU "überrascht" gezeigt, dass Pechstein bis eine Woche vor der Anhörung keinen Versuch unternommen habe, medizinisch zu untermauern, dass sie unter einer Blutkrankheit leide.

Aussage gegen Aussage

Nicht zum ersten Mal steht hier Aussage gegen Aussage. Kuipers hatte bereits der Darstellung des Pechstein-Lagers widersprochen, dass die ISU bei der Mehrkampf-WM in Hamar einen "Kuhhandel" angeboten habe. Angeblich soll Pechstein unter Druck gesetzt worden sein, unter dem Vorwand einer Krankheit den Wettkampf abzubrechen, um in Ruhe den Fall zu analysieren: "Wir haben kein Startverbot ausgesprochen und auch keinen Rat gegeben, was die DESG und Claudia tun sollten."

Bergmann vertrat derweil erneut die Ansicht, dass Pechstein nicht verpflichtet sei, in diesem Fall den Beweis zu erbringen, sondern die ISU. "Wir haben einen Rechtsstaat, und der ist auch im Sportrecht nicht außer Kraft gesetzt. Wenn Restzweifel bestehen, heißt es gerade in einem Indizienprozess: Im Zweifel für den Angeklagten. Dabei gelten gerade in Claudias Fall höchste Anforderungen an das Beweismaß", sagte Bergmann.

Scharfe Kritik an Urteilsbegründung

Zudem kritisierte er die schriftliche Urteilsbegründung der ISU scharf. Gassmanns Aussage, derzufolge der enorme Anstieg von Pechsteins Retikulozytenwert "höchst unwahrscheinlich" auf eine Krankheit zurückzuführen sei, sei falsch dargestellt.

In der Tat geht auch aus einem Protokoll von Gassmanns Anhörung vor dem ISU-Gericht hervor, dass der Gutachter Zweifel an Doping als einziger Möglichkeit hat. Gassmann berichtete über den Fall des dreimaligen finnischen Langlauf-Olympiasiegers Eero Antero Mäntyranta, bei dem eine lange Zeit unbekannte Mutation eines EPO-Rezeptors im Körper einen extrem erhöhten Hämatokritwert von bis zu 68 hervorgerufen habe. Deshalb sei er mit Blick auf den Fall Pechstein "vorsichtig". Das Anhörungsprotokoll liegt dem SID vor.

Franke vermutet Manipulation

Unterdessen skizzierte der Heidelberger Molekularbiologe und Dopingjäger Werner Franke eine theoretische Möglichkeit, wie Pechstein - sollte sie tatsächlich Blutdoping betrieben haben - in die Falle gegangen sein könnte. "An Retikulozyten sind Manipulationen länger nachweisbar als an anderen Blutbestandteilen. Das hätte das Pechstein-Lager dann wohl nicht bedacht", sagte Franke dem SID. Pechstein selbst hatte gesagt, dass sie an dem betreffenden Tagen in Hamar das Wort Retikulozyten erstmals gehört habe.

Die Tatsache, dass in einer "dopingverseuchten Sportart wie Eisschnelllauf" (Franke) jahrelang kein einziger positiver Dopingfall aufgetaucht ist, könnte eine einfache Begründung haben. Die ISU kündigt ihre Dopingtests 24 Stunden vorher an.