Essen. Wenig Rücksichtnahme auf die Gesundheit der Athleten, wenig Zuschauer-Interesse. Bei der Leichtathletik-WM bestätigen sich alle Befürchtungen.

Carl Dohmann betreibt einen Sport, der schon mal belächelt wird. Weil es halt etwas watschelnd aussieht, wenn Menschen bei angewinkelten Armen ganz schnelle Schritte machen, ohne aber loszurennen. Geher machen ihren Job, können dabei aber nicht glänzen. Sie gehören nicht zu den Stars der Leichtathletik, sondern zu den Exoten. Dass ihr Wettbewerb über 50 Kilometer bei der Weltmeisterschaft in Katars Hauptstadt Doha weltweite Beachtung fand, hatte mit den Umständen zu tun, die ihnen zugemutet wurden.

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„So etwas habe ich in meiner ganzen Karriere noch nicht erlebt“, sagte Carl Dohmann. Der 29-jährige Hannoveraner hatte sich mit einer Aufholjagd auf Platz sieben vorgekämpft und sprach danach stellvertretend für alle Kollegen: „Wir haben mit den härtesten Bedingungen gerechnet. Aber dass es so hart wird, habe ich nicht erwartet. Über diesen Wettkampf wird man noch in Jahrzehnten sprechen.“ Dohmann sprach von „Pulsschlägen in astronomischer Höhe“.

32 Grad, 73 Prozent Luftfeuchtigkeit

Es war tiefe Nacht in Katar, als die Sieger feststanden in diesem langsamsten Gehen der WM-Geschichte. Die Ausdauerwettbewerbe waren mit geheuchelter Rücksicht auf die Athleten ja schon in Nachtstunden geschoben worden, dennoch litten sie unter extremer Hitze. Bei 32 Grad und 73 Prozent Luftfeuchtigkeit wurden reihenweise Teilnehmer aus dem Wettkampf genommen und medizinisch versorgt, nur 28 von 46 Gestarteten schafften es bis ins Ziel. Titelverteidiger und Weltrekordler Yohann Diniz kam nicht durch, der Franzose zog ein niederschmetterndes Fazit: „Da draußen haben sie uns in einen Backofen geschoben. Sie haben aus uns Meerschweinchen gemacht, Versuchstiere.“

Leichtathletik-WM - und keiner schaut zu: Die Ränge im Stadion sind nicht selten leer.
Leichtathletik-WM - und keiner schaut zu: Die Ränge im Stadion sind nicht selten leer. © Reuters

Katarstimmung. Auch 28 Marathonläuferinnen mussten trotz gewissenhafter Vorbereitung vorzeitig aufgeben, einige kollabierten. Volha Mazuronak, Europameisterin aus Weißrussland und nun WM-Fünfte, fasste das ganze Drama treffend zusammen: „Das ist respektlos gegenüber den Athleten. Die Funktionäre vergeben die WM hierhin, jetzt sitzen sie in kühlen Räumen oder schlafen.“

Zum Teil Kulissen wie beim Training

Vielleicht zählen sie auch ihr Geld. Der Spiegel berichtete, ein französischer Untersuchungsrichter habe Katars einflussreichsten Sportfunktionär zum Korruptionsverdacht bei der WM-Vergabe verhört. Der ehemalige Weltverbandspräsident Lamine Diack aus dem Senegal steht seit vier Jahren in Frankreich unter Hausarrest. Für die Athleten aber kommen sämtliche Untersuchungen dubioser Vorgänge zu spät. Sie sind den Gegebenheiten in dem Wüstenstaat ausgeliefert. „Scheich egal“, schreibt die Deutsche Presse-Agentur.

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Dass die Gesundheit der Athleten fahrlässig aufs Spiel gesetzt wird, ist ein besonders dramatischer, aber nicht der einzige Kritikpunkt an der Vergabe eines solchen Großereignisses in dieses Ausrichterland. Dass in Katar Menschenrechte häufig missachtet werden, ist schon lange vor dem WM-Start ausgiebig angeprangert worden.

Coleman wurde nur durch Anwälte gerettet

Vor Ort erweist sich nun auch die Atmosphäre im runtergekühlten Khalifa-Stadion als einer WM nicht würdig. Die Veranstalter waren tatsächlich so dreist zu behaupten, es wäre täglich ausverkauft. Die Arena fasst 40.000 Zuschauer, die Hälfte der Plätze wurde abgedeckt, und dennoch blieb auch der Rest bisher weitgehend leer. Ab und zu wird es mal laut, wenn ausländische Fans ihre Teilnehmer feiern. Ansonsten: keine Begeisterung, keine Freude, keine Euphorie, kein Interesse. Kulissen zum Teil wie beim Training.

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Als hätte die Leichtathletik nicht schon genügend andere Sorgen. Die russischen Athleten lässt der Weltverband nur unter neutraler Flagge starten, weil ihr Land wegen Vorwürfen zu angeblichen Manipulationen im Moskauer Doping-Kontrolllabor suspendiert blieb. Und der Nachfolger des zurückgetretenen jamaikanischen Superstars Usain Bolt als schnellster Mann der Welt, der Amerikaner Christian Coleman, konnte sein 100-Meter-Gold in Doha nur gewinnen, weil es seinen Anwälten durch geschickte Winkelzüge gelang, einen der drei verpassten Dopingtests innerhalb von zwölf Monaten zurückdatieren zu lassen. Ansonsten hätte Coleman nämlich für zwei Jahre gesperrt sein müssen.

Die Fifa verweist auf den Winter

Die Funktionäre, die 2014 für Doha votierten, haben sich entschieden: Für das Geld – und gegen den dringend nötigen Imagegewinn, gegen die Bedürfnisse der Athleten, auch gegen die Interessen der TV-Zuschauer weltweit, denen ein Spektakel vorenthalten wird. Dass dies den Druck auf den Fußball-Weltverband erhöht, der seine WM 2022 ebenfalls in Katar austragen lässt, ist logisch. Deshalb beeilte sich die Fifa am Montag zu betonen, ihr Turnier finde „im milden Winter“ statt.

Wenigstens das, ja. Der robuste Fußball wird Katar überleben. Die Leichtathletik aber, eine olympische Kernsportart, bereitet gerade vor der Weltöffentlichkeit einen Suizid vor. Aber wenn sie stirbt, stirbt sie reich.