Herne. Aus Kliniken und Pflegeheimen kommen auffallend klare Statements zum AfD-Hoch und zur Wahl. In Herne wird klar: Auch Medizin ist jetzt politisch.
Christos Krogias lässt die Zahlen für sich sprechen. 19 Köpfe zählt das Team des Chefarztes der Neurologischen Klinik am Evangelischen Krankenhaus Herne. Er selbst und zwölf Kolleginnen und Kollegen haben Zuwanderungsgeschichte. Aus Griechenland, Zypern, Syrien und Russland kommen sie, sind Araber, Christen oder Kurden. „Alle Assistenzärztinnen und Assistenzärzte haben Migrationshintergrund. Das zeigt, wie sehr die medizinische Versorgung in Deutschland auch in Zukunft von Migranten abhängig ist“, sagt der 51-Jährige. Und deshalb wächst seine Unsicherheit.
Am Sonntag, 23. Februar, ist Bundestagswahl. Selten war die Stimmung insbesondere in der Migrationsdebatte so aufgeheizt. Dass Umfragen zufolge jede fünfte Stimme an die in Teilen gesichert rechtsextreme AfD gehen könnte und auch die Union einen deutlich schärferen Ton anstimmt, treibt nicht nur viele Menschen um. Branchen, die massiv auf Ausländer als Arbeits- und Fachkräfte setzen, sind in Sorge - wie die Gesundheitsbranche.
Warnruf: Nicht wenige ausländische Kräfte denken über Auswanderung nach
Von dort gibt es ungewöhnlich klare Worte zum Ende des kurzen Winterwahlkampfs. Deutschland müsse ein weltoffenes und tolerantes Land bleiben, heißt es in einem Statement, das man als Wahlaufruf lesen kann. Alle führenden Organisationen und Verbände des Gesundheitswesens unterzeichnet haben.
„Wir sehen mit großer Sorge, dass derzeit mit Schlagworten wie ‚Remigration‘ und ‚Massenabschiebungen‘ unsere ausländischen Kolleginnen und Kollegen zutiefst verunsichert werden und nicht wenige von ihnen bereits darüber nachdenken, in einem anderen Land in Europa zu heilen, zu helfen und zu pflegen“, heißt es in dem kurzen Papier. „Für die gesundheitliche Versorgung der Menschen in Deutschland würde das zu unverantwortbaren Verwerfungen in der Behandlung und Betreuung der Menschen führen.“
Jeder dritte in der Altenpflege hat Zuwanderungsgeschichte
Es ist das erste Mal, dass sich die Leitungen von Kliniken, Gewerkschaften, Pflegekräfte und Ärzte gemeinsam in einem Bundestagswahlkampf äußern. Aus den Reihen der Beteiligten heißt es, dass sich die Stimmung drehe und man das Gefühl habe, etwas tun zu müssen.
In dem Aufruf, der weder die AfD noch eine andere Partei konkret nennt, wird darauf verwiesen, dass 15 Prozent der Ärztinnen und Ärzte in Deutschland aus dem Ausland kommen. Im einwanderungserfahrenen NRW sind es mehr. Laut Ärztekammer Westfalen-Lippe hat jeder fünfte der Ärztinnen und Ärzten einen ausländischen Pass. Rechnet man noch jene mit deutschem Pass hinzu, wächst der Anteil: Laut Sachverständigenrats für Integration und Migration hat bundesweit etwa jeder vierte Beschäftigte in der Human- und Zahnmedizin und jeder Dritte in der Altenpflege eigene oder familiäre Zuwanderungsgeschichte.
„Was ist, wenn man nicht willkommen ist in einer Gesellschaft, für die man kämpft?“
Arbeitgeber-Initiative aus der Pflege: „Kein Kreuz für Antidemokraten und Populisten“
Auch aus der Pflegebranche gibt es dieser Tage klare Worte. „Kein Kreuz für Antidemokraten und Populisten“, schreibt die Arbeitgeberinitiative Ruhrgebietskonferenz Pflege, zu der über 40 gemeinnützige und private Pflegeunternehmen mit über 20.000 Beschäftigten gehören. „Ohne Fachkräfte mit Migrationshintergrund wäre die Pflege nicht möglich. Wir brauchen gezielte Zuwanderung und eine sichere Bleibeperspektive für Menschen, die unser Sozialsystem stützen.“ In vielen Teilen Deutschlands wäre die Versorgung ohne Kräfte aus dem Ausland akut gefährdet.
Die Arbeitgeber erinnern daran, dass viele der Mitarbeitenden, aber auch der pflegebedürftigen Menschen Krieg, Vertreibung und Diskriminierung erlebt haben. „Die Forderungen nach Abschottung und Ausgrenzung sind für sie ein Schlag ins Gesicht und zeigen alarmierende Geschichtsvergessenheit“, so die Kritik.
Herner Chefarzt: Kann nicht verstehen, dass so viele dieser Meinung sind
In Herne sagt Prof. Christos Krogias, dass der Zuspruch für die AfD mit seinem Team etwas mache. Noch spreche niemand offen darüber, Deutschland verlassen zu wollen. Doch die Sorge, dass ihnen das Leben erschwert werde, gebe es. Der Neurologe berichtet von einem Kollegen, der seit längerem versuche, seine Frau zu sich zu holen. Werde das künftig noch schwerer?
Krogias wehrt sich dagegen, wenn von Rechtsextremen behauptet wird, zugewanderte Fachkräfte seien in der derzeitigen Migrations- und Asyldebatte nicht gemeint. Er spricht über ein Gefühl, das sich breit mache: „Was ist, wenn man nicht willkommen ist in einer Gesellschaft, für die man kämpft?“ Der 51-Jährige sagt, er habe Deutsche als sehr zuvorkommend erlebt. „Deshalb kann ich es auch nicht verstehen, dass so viele dieser Meinung sind.“ Ihn plage die Unsicherheit, wie lange er sein Team und damit noch die Versorgungsstruktur aufrechterhalten könne, wenn sich die Stimmung weiter aufheize.
Im Klinikkonzern arbeiten 56 Nationalitäten zusammen
Bei 1200 Beschäftigten arbeiten in der Evangelischen Krankenhausgemeinschaft Herne/Castrop-Rauxel 56 Nationalitäten zusammen. In der Krankenpflege werden Zuwanderer gezielt angeworben, um die Rentenwelle der Babyboomer abzufedern. Adnan Causevic kümmert sich um genau das: Der 26-jährige Pflegefachmann aus Bosnien-Herzegowina spricht für den Herner Klinikkonzern mit Bewerberinnen und Bewerbern aus Tunesien, Serbien oder Indien, hilft ihnen beim Ankommen. Über den Klinikalltag sagt er: „Ohne Ausländer könnte das nicht funktionieren.“
Die AfD sei bislang kein Thema bei den Bewerbungsgesprächen mit Menschen im Ausland. „Die meisten haben von Deutschland das Bild eines Landes, in dem Menschen in Frieden zusammenleben. Das treibt viele von ihnen an: ein Leben in Frieden und ohne Armut.“
Aber wenn ein Patient in der Notaufnahme einen Arzt anfährt, ob er denn überhaupt Deutsch spreche, dann bewege so etwas das ganze Team. „Natürlich ist Deutsch eine schwere Sprache, ich hatte und habe davor enormen Respekt“, sagt er und wirbt für einen breiten Blick: „Ich erlebe meine Kolleginnen und Kollegen als extrem fleißig und nett. Für sie ist die Arbeit hier in Deutschland eine Chance.“ Er selbst hat sich trotz einer vierjährigen Ausbildung in Bosnien-Herzegowina zusätzlich über 1000 Stunden schulen lassen. Und im Gespräch wird deutlich, welch hohes Arbeitsethos er hat - und auch von anderen verlangt.
Selbst mitstimmen am 23. Februar könne er nicht, verrät Causevic kurz vor dem Abschied noch. Noch habe er keinen deutschen Pass. Er habe warten wollen, bis für ihn dank eines neuen Gesetzes der scheidenden Regierung eine doppelte Staatsbürgerschaft möglich ist.
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