Essen. Ob ARD-Deutschlandtrend oder ZDF-Politbarometer: Der Eklat im Bundestag hat der CDU bei den Wählern nicht geschadet. Vordergründig ...

Ein Wochenende bei Verwandten im beschaulichen Schwelm: Beide Gastgeber, nennen wir sie Herbert und Marianne, sind über 80, gläubige Katholiken und haben noch nie etwas anderes gewählt als die CDU. Bei Kaffee und Apfelkuchen kommt das Gespräch schnell auf Friedrich Merz und seine Abstimmungsmanöver im Bundestag. Herbert sagt, er wähle eine Partei und keinen Kanzler und werde sein Kreuz darum am 23. Februar wieder, wenn auch murrend, bei der CDU machen. Marianne schüttelt den Kopf. Sie sei bitter enttäuscht darüber, dass Merz „gemeinsame Sache mit der AfD gemacht“ habe, wisse aber noch nicht, wen sie stattdessen wählen solle. Die Grünen? Unvorstellbar. Die FDP? Habe sich mies verhalten zuletzt. Die SPD mit Scholz? „Das geht doch eigentlich auch nicht.“ Ratloses Kaffeeschlürfen folgt. „Schmeckt Euch der Kuchen?“ Schmatzende Zustimmung. „Ist alles nicht so toll“, bindet Herbert das Gespräch ab.

Kaffeesatzleserei beendet

Bis vor wenigen Tagen war die Frage, wie man in deutschen Wohnzimmern über die außergewöhnlichen Vorgänge im Bundestag diskutieren würde und ob das den Unionsparteien und ihrem Kanzlerkandidaten am Ende schadet, reine Kaffeesatzleserei. Inzwischen allerdings liegen die Umfragewerte der renommierten Institute vor, die ARD und ZDF beliefern. Und da muss man konstatieren, dass die Mariannes innerhalb der Unions-Anhänger offenbar eine Minderheit darstellen. Im ZDF-Politbarometer wurde ausdrücklich gefragt, wie man die Abstimmung im Bundestag unter Inkaufnahme von AfD-Stimmen bewerte. Zwar findet die Hälfte aller Befragten demnach, dass dieses Vorgehen der Demokratie schade. Unter Anhängern der Union ist es jedoch nur jeder Fünfte.

Ähnlich sieht es im ARD-Deutschlandtrend aus. CDU und CSU kommen hier gemeinsam auf 31 Prozent. Damit liegen sie einen Prozentpunkt über dem Wert der Vorwoche. In der Bewertung der Spitzenpolitiker legt Merz zu. Derzeit sind 32 Prozent mit der Arbeit des CDU-Chefs zufrieden oder sogar sehr zufrieden. Das sind vier Punkte mehr als vor einer Woche und sieben mehr als Anfang Januar. Mit anderen Worten: Friedrich Merz und die Union gehen – gemessen an diesen Umfragen – mindestens stabil aus turbulenten Tagen hervor. Die Trendwende im Wahlkampf bleibt aus.

Wahlplakate
Ist er der Richtige? Die Unionsanhänger stehen weiter mit großer Mehrheit hinter Friedrich Merz. © DPA Images | Kay Nietfeld

Hat also der Zweck letztlich die Mittel geheiligt? Gibt die Zustimmung der potenziellen Wählerinnen und Wähler Merz im Nachgang recht? Ich finde, nein – und ich ändere meine Meinung jetzt nicht ab, weil die Umfragen überraschend so aussehen, wie sie aussehen. Das wäre ja noch schöner: Kommentare, die sich nach Umfragen richten, Journalisten, die sich wie Fähnchen im Wind verhalten. Das Merz-Manöver in der Migrationspolitik ist und bleibt ein Fehler.

Ein Fest für die AfD

Erstens: Es war reine Symbolpolitik und hat das Asylrecht nicht verändert, was nur zu Enttäuschungen führen kann. Zweitens: Die Gräben zwischen den demokratischen Parteien sind in der Folge so tief wie nie. Drittens: Auch zwischen den Unionsparteien und den Kirchen gibt es nun einen kaum zu überwindenden Dissens. Viertens: Sogar die frühere Bundeskanzlerin sah sich genötigt, ihren potenziellen Nachfolger zu kritisieren. Fünftens: Statt Geschlossenheit hat die CDU/CSU-Fraktion eher massive Verunsicherung ausgestrahlt. Die Abstimmung zum „Zustrombegrenzungsgesetz“ ging dann ja auch prompt verloren. Für die AfD war es unter dem Strich ein einziges Fest, und die langfristigen Folgen sind unklar. Daran ändert auch die Momentaufnahme von Umfragen nichts.

Professor Lukas Stötzer, Wahlforscher an der Universität Witten/Herdecke, verwies im Interview mit der WAZ prompt auf die Risiken, die in der Zukunft liegen. Die Migration zum Haupt-Wahlkampfthema zu machen, verschaffe den Rechtsradikalen meist mehr und nicht weniger Zulauf, prognostizierte er. Man könne das überall in Europa beobachten: in den Niederlanden, in Belgien, in Italien, ganz besonders in Österreich, wo nicht einmal mehr Brandmauer-Reste zu finden sind. Stötzer sieht darum auch die AfD als „Hauptprofiteur“ des umstrittenen Merz-Moves.

Hätte er es doch dabei belassen, nach Aschaffenburg sein „Jetzt-reicht-es!“ herauszuschmettern und anzukündigen, was er nach seiner Wahl zum Bundeskanzler alles „sofort“ umsetzen wolle – so als könne er am ersten Tag wie der US-Präsident in einer mit Anhängern gefüllten Halle Dekrete unterzeichnen und anschließend seine Füller ins Wahlvolk schmeißen. Manche hätten das nur lächerlich gefunden. Andere wären vielleicht entzückt gewesen ob der demonstrierten Entschlossenheit: erst machen, dann denken. Doch selbst das reichte Merz nicht. Er wollte mehr. Merz wollte es unbedingt wissen und noch vor der Bundestagswahl seine Anträge zur Abstimmung bringen. Eine Bauchentscheidung war das, die Zweifel an der Kanzlertauglichkeit geweckt haben – allerdings vor allem bei jenen, die schon vorher skeptisch auf Merz blickten.

Öffentliche und veröffentlichte Meinung

Denn richtig ist auch: Zwischen der vielfach veröffentlichten Empörung über das Merz-Manöver einerseits und der öffentlichen Meinung andererseits gibt es eine erhebliche Lücke. Schon am vergangenen Wochenende zeigte eine Umfrage unserer Redaktion an einem CDU-Parteistand in Duisburg exemplarisch, dass viele Unionsanhänger sehr einverstanden mit dem Kurs des Kanzlerkandidaten sind, dass sie sein Vorgehen unterstützen. Da konnte man im Hinblick auf die folgenden Meinungsumfragen schon eine Vorahnung haben. Und so beeindruckend die Anti-Merz-Demonstrationen zuletzt auch waren (allein in Essen gingen 14.000 Menschen auf die Straße): Die Protestierenden haben nicht „die Mitte“ repräsentiert, so sehr sie das auch suggerieren wollten, sondern nur einen Ausschnitt unserer Gesellschaft.

Demonstration gegen Friedrich Merz gegen die CDU und AFD in Dortmund.
14.000 marschierten am 01. Februar von der Grünen Mitte in Essen zum Bahnhof und zurück und ließen keinen Zweifel daran, was sie von Friedrich Merz halten. © IMAGO/Markus Matzel | IMAGO/Markus Matzel

Die Mitte – sie ist gespalten: Was für viele in der Mitte ein Tabubruch war, ist für andere das Aufweichen einer Blockade, die „CDU pur“ ermöglicht. Worin viele in der Mitte ein gefährliches „All-In“ von Friedrich Merz gesehen haben, sehen andere ein Zeichen mutiger Haltung und Entschlossenheit. Und während manche in der Mitte die Glaubwürdigkeit von Merz für beschädigt halten, da er ja noch im November zufällige oder gar geplante Mehrheiten mit der AfD ausgeschlossen hatte, werden jetzt Stimmen lauter, die ihm Lernfähigkeit attestieren. Motto: Besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen.

Was ist richtig, wer ist falsch?

Wird eine richtige Sache dadurch falsch, dass die Falschen ihr zustimmen? Selbst NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst beantwortete diese Frage öffentlich mit einem „Nein“, obwohl er sehr genau weiß, dass eine Mehrheitsbeschaffung mit den Falschen eben diesen Falschen Macht verleiht, dass das Abhängigkeiten schafft, dass das passive Bündnisse sind, selbst wenn man nicht einmal miteinander spricht. Ich glaube, dass Wüst hier gegen seine innerste Überzeugung argumentiert hat, um nicht illoyal zu wirken. Denn logisch zu Ende gedacht müsste man dann ja auch zu dem Ergebnis kommen, dass der Richtige nicht dadurch ein Falscher würde, wenn die Falschen ihn wählen.

Würde Friedrich Merz sich mit den Stimmen der AfD zum Kanzler wählen lassen? Er selbst hat es kategorisch ausgeschlossen. Was aber, so fragen manche, wenn wieder einmal besondere Umstände besondere Maßnahmen erfordern, wenn es mehr um Lernfähigkeit ginge denn um Glaubwürdigkeit? Meine Antwort dazu ist klar: Ich glaube Friedrich Merz trotz der jüngsten Erfahrungen. Ein CDU-Kanzler von Gnaden der AfD? Das würde die CDU zerreißen, Stand heute, Stand in den kommenden Jahren. Stand 2029? Das wäre Kaffeesatzleserei, und die bringt nichts (siehe oben).

Kompromisslosigkeit überwinden

Die Unionsparteien haben sich nicht mit Ruhm bekleckert; SPD und Grüne aber auch nicht. Merz ist kein Nazi, und wer, wie der SPD-Fraktionschef im Bundestag, sagt, der CDU-Chef habe „das Tor zur Hölle“ geöffnet, dem fehlen selbst Maß und Mitte, der polarisiert nur statt irgendwen zu überzeugen. Die AfD ist der Hauptgegner aller Demokraten. Spätestens am 24. Februar, am Tag nach der Bundestagswahl, müssen sich diese wieder an einen Tisch setzen können. Spätestens dann müssen sie verbal abrüsten und ihre demonstrierte Kompromisslosigkeit überwinden.

In der Sache liegen CDU/CSU und FDP auf der einen und SPD und Grüne auf der anderen Seite ja nicht weit auseinander. Alle wollen sie im Kern eine härtere Migrationspolitik und ein Mehr an Sicherheit und Ordnung. In dieser Grundsatzfrage ist sich auch die Mitte unserer Gesellschaft einig. Ob es Merz als Kanzler gelingen kann, diese Einigkeit herauszuarbeiten und in eine sachgerechte Realpolitik zu übersetzen, die die AfD rechts liegen lässt? Die Möglichkeit besteht. Mehr noch: Es ist eine Notwendigkeit. Der Konsens ist alternativlos, damit nicht eines Tages ganz Deutschland den Kaffee aufhat.

Auf bald.

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