Essen. Gerade in NRW kommt der neue Politikstil des Kanzlerkandidaten nicht gut an. Der Abstimmungserfolg im Bundestag war ein Pyrrhussieg.
So sehen Sieger jedenfalls nicht aus. Gerade haben CDU und CSU ihren Fünf-Punkte-Plan zur Migration durch den Bundestag gebracht. Doch statt sich über das Ergebnis zu freuen, herrscht Schweigen in der Fraktion. Selbst Friedrich Merz, der den Antrag eingebracht hat mit dem Hinweis, es sei ihm letztlich egal, wer ihm zustimme, wirkt plötzlich zerknirscht angesichts der Jubel-Ausbrüche ganz rechts im Parlament. Er bedauere, dass die Mehrheit mit Zustimmung der AfD zustandegekommen sei, gibt der Kanzlerkandidat der Union zu Protokoll. Es könnte eine Art Entschuldigung sein – wenn man nicht genau wüsste, dass der Mann genau diese Mehrheit billigend in Kauf genommen hat.
Es war kein Unfall. Es war Vorsatz. Viele Menschen im Land finden das unverzeihlich, nicht nur der amtierende Bundeskanzler. Sogar die frühere Kanzlerin und CDU-Chefin Angela Merkel, sonst sehr zurückhaltend mit Stellungnahmen zur Tagespolitik, distanziert sich am Tag danach öffentlich von Merz.
Hendrik Wüst is not amused
Was das für die Bundestagswahl in einigen Wochen bedeuten wird, lässt sich noch nicht absehen. Dass man aber auch in Düsseldorf, in der Staatskanzlei vor allem, ziemlich bedröppelt aus der Wäsche geschaut haben dürfte nach diesem politischen Erdbeben in Berlin und all den Nachbeben, die jetzt folgen, liegt auf der Hand. NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst ist und bleibt ja, trotz aller vordergründigen Loyalitätsbekundungen, ein Gegenentwurf zu Merz.
Wo Merz poltert, strahlt Wüst Besonnenheit aus. Wenn Merz Kompromisslosigkeit signalisiert, doziert Wüst in aller Ruhe, was jeder Demokrat weiß: Ohne Kompromisse, ohne eine „Allianz der Mitte“, wie er es nennt, geht es nicht, jedenfalls nicht, wenn man Realpolitik betreibt. Immerhin ist es Wüst in NRW gelungen, nach Solingen zusammen mit den Grünen ein Sicherheitspaket zu schnüren. Aber vielleicht geht es Merz inzwischen gar nicht mehr darum: um Realpolitik.
NRW-Innenminister Herbert Reul hat es in den vergangenen Tagen immer wieder verklausuliert angedeutet. Zum Kernvorschlag von Merz, es solle ein faktisches Einreiseverbot für alle Menschen ohne gültige Einreisedokumente geben, hatte Reul etwas schnoddrig vorgetragen, manchmal müsse man Lösungen anbieten, „auch wenn man weiß: hundertprozentig geht‘s nicht“. Was zunächst wie Zustimmung und Unterstützung klingt, bedeutete übersetzt: Merz verlässt den Boden der Realpolitik. Mehr noch: Er verlässt womöglich den Boden des Grundgesetzes und des europäischen Rechts. Das weiß Merz. Und das weiß natürlich auch der versierte Innenpolitiker Reul, wenn er sagt: Hundertprozentig geht's nicht. Die Wahrheit ist: Es geht nicht einmal zehnprozentig.
Trumpismus, erster Akt
Und damit sind wir dann bei den Anfängen trumpistischer Politik. Kein Konsens, keine Kompromisse, harte Ankündigungen (“am ersten Tag meiner Amtszeit werde ich ...“), symbolische Demonstration von Entschlossenheit statt kleiner Schritte, die am Ende zu einem guten Ergebnis führen, weil die Welt komplex ist und es keine einfachen wahrhaftigen Lösungen gibt. Merz macht den Mini-Trump, auch wenn ihm und seiner altehrwürdigen CDU das nicht steht und wichtige Parteifreunde wie Wüst und Reul das wohl für einen schweren strategischen Fehler halten, es aber so klar nicht sagen dürfen.
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Jene Wählerinnen und Wähler, denen der der Geduldsfaden gerissen ist und die nicht hören können oder wollen, dass aufgrund von Realpolitik (!) die Zahl der Asylanträge 2024 um rund 30 Prozent zurückgegangen ist, mögen den Merz-Move begrüßen. Doch ich ahne, dass nicht wenige Konservative (und ich gebrauche diesen Begriff nicht als Schimpfwort) damit überhaupt nicht einverstanden sind. Viele traditionelle CDU-Wähler wünschen sich eine intakte Brandmauer gegen die AfD und einen, sollte die Wahl so ausgehen, verlässlichen, glaubwürdigen Bundeskanzler Friedrich Merz, bei dem Deutschland und seine freiheitlich-demokratischen Grundordnung in guten Händen sind.
Scholz und seine Empörung
Wenn die SPD und ihr Noch-Kanzler Olaf Scholz das nun mit einer Mischung aus echter und gespielter Empörung anzweifeln, dann ist das eine absehbare Reaktion auf die Vorgänge im Bundestag. Im Grunde ist es die letzte Chance für Scholz, noch einmal in die Offensive zu kommen. Und je tiefer der Graben zwischen den demokratischen Parteien und möglichen künftigen Koalitionären wird, desto besser ist das für die AfD, die in der Tat ihr Glück kaum fassen dürfte. Die Verantwortung dafür trägt Friedrich Merz mit seiner „All-in“-Strategie. Staatspolitische Verantwortung sieht anders aus. Pokerspieler haben im Kanzleramt nichts zu suchen.
Andererseits: Wenn Friedrich Merz immer und immer wieder beteuert, dass es zu keiner Koalition der Union mit der AfD kommen wird, dann darf man darauf weiter vertrauen. Wahr ist eben auch, dass es im Vorfeld der Abstimmung im Bundestag keinerlei Absprachen mit der AfD gegeben hat. CDU und CSU haben ihre Anträge den Rechtsradikalen nicht einmal vorab zugeschickt. Wenn Merz das als Beleg dafür anführt, dass die Brandmauer gegen rechts weiter steht, dann macht er einen Punkt. Trotzdem muss er sich vorhalten lassen, nicht zuletzt von Angela Merkel, dass er noch im November 2024 im Bundestag versprochen hatte, Mehrheiten nur mit Parteien der Mitte zu suchen. Das Versprechen hat er definitiv gebrochen. Es gilt nicht mehr. Übrigens auch mit Folgewirkungen für alle Landtage und Kommunalparlamente.
Brandmauer für links?
Und noch etwas spricht für Merz: Die Brandmauer gegen rechts – in ihrer früheren und jetzt nicht mehr gültigen Rigorosität – war vor allem auch eine Brandmauer für links. Wenn CDU und CSU dauerhaft dazu verdammt sind, Kompromisse mit linken Parteien einzugehen, weil die FDP als bürgerliche Alternative de facto ausfällt, dann lässt sich pure Unionspolitik absehbar nicht mehr verwirklichen. Machtpolitisch ist eine solche Brandmauer dann auch ein Gefängnis für Konservative. Und dennoch: Der Preis, sie durchlässiger zu machen und dadurch die eigene Glaubwürdigkeit zu beschädigen – dieser Preis ist hoch. Zu hoch.
Die Alternative für Deutschland ist nicht eine Politik nach Art der Alternative für Deutschland. Eine im Kern verlogene Symbolpolitik hilft niemandem, auch wenn der Wunsch nach Ruck-zuck-Lösungen im Angesicht grauenhafter Taten wie in Solingen, Magdeburg oder Aschaffenburg verständlich ist. Grenzkontrollen lassen sich verstärken, Geldleistungen für Asylbewerber weiter einschränken; es können und müssen weitere Abkommen mit anderen Ländern zur Rückführung von illegalen Flüchtlingen abgeschlossen werden, auch wenn das mühsam und manchmal auch bitter ist, etwa wenn man es in Afghanistan mit den Taliban zu tun hat; vor allem aber müssen die Behörden ihre Vollzugsdefizite aufarbeiten und abstellen. Es wäre viel gewonnen, wenn geltendes Recht konsequent umgesetzt würde.
Psychotherapien eingeschränkt
Ernsthafte Realpolitik würde sich auch endlich dem Umstand stellen, dass wir es bei vielen migrantischen Attentätern mit psychisch Gestörten zu tun haben. Es geht hier nicht darum, aus Tätern Opfer zu machen, sondern potenzielle Täter als solche rechtzeitig zu erkennen und zu behandeln, zur Not auch gegen deren Willen, wenn sie als gefährlich eingestuft werden. Jeder dritte Flüchtling ist aufgrund von Krieg, Gewalt, Hunger und Verfolgung traumatisiert. Es war ein schwerer Fehler des Gesetzgebers, in Deutschland Asylsuchenden den Zugang zu Gesundheitsleitungen wie Psychotherapien weiter einzuschränken statt diese auszuweiten. Das mag nicht populär sein. Aber wer populistisch handelt, macht die Gefahren nicht kleiner, sondern größer.
Leider ist zu befürchten, dass der Populismus auch am Freitag die Oberhand behält, wenn die Unionsfraktion im Bundestag über ihr „Zustrombegrenzungsgesetz“ abstimmen lässt. Allein der Begriff spielt schon mit den Ängsten der Bevölkerung – sehr nach dem Geschmack von AfD und BSW. Beide Gruppierungen wollen zustimmen und werden Merz mit Wonne zu einem weiteren Pyrrhussieg verhelfen.
Auf bald.
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