Gelsenkirchen. Seit 25 Jahren kümmern sich Ehrenamtler des ambulanten Hospiz-Vereins um Gelsenkirchener im letzten Lebensabschnitt. Hier erzählen sie, warum.
Helfen, damit Sterbende bis zum letzten Augenblick gut leben können: Das ist der Leitspruch der Sterbebegleiterinnen des Gelsenkirchener Hospiz-Vereines. Seit 25 Jahren kümmern sich die Mitglieder um Menschen in der letzten Lebensphase: Meist daheim, manchmal aber auch in der Klinik oder im Seniorenheim. 50 aktive Ehrenamtler sind es neben dem Vorstand und den hauptamtlichen Koordinatorinnen aktuell. Anja Mertins-Krebs und Iris Biedermann sind schon einige Jahre dabei: Wir haben mit ihnen über ihre Arbeit und ihre Motivation dafür gesprochen.
Das Leben für Sterbende in den oft abgeschirmten Alltag bringen
Iris Biedermann stellt gleich zu Beginn klar: Die Begleitung Sterbender ist eine Bereicherung ihres Lebens. „Ich empfinde es als Glück, längere Zeit mit einem anderen Menschen verbringen zu können. Mit ihm oder ihr zu lachen und zu weinen. Ihm oder ihr Freude in der letzten Lebensphase zu schenken. Es ist ein Geben und Nehmen“, versichert die zierliche kleine Frau mit einem Leuchten in den Augen. Eine soziale Ader habe sie schon immer gehabt. Zur Sterbebegleitung aber kam sie nach dem Tod ihrer Mutter, die sie bis zum Ende alleine gepflegt hatte. „Ich habe gedacht: Die Erfahrung, die ich hierbei gesammelt habe, muss ich nutzen.“
Das war vor 15 Jahren. Sie absolvierte den Befähigungskurs des Hospizvereins, den alle Helfer machen müssen, ganz gleich, welche Vorerfahrung sie haben. 80 Stunden intensive Fortbildung sind es. Danach übernahm Iris Biedermann schnell den ersten Fall. Einen älteren Herrn im letzten Stadium einer Krebserkrankung.
„Ich habe ihn und seine Frau ein halbes Jahr lang begleitet. Das war eine sehr schöne Erfahrung, die heute noch auf mich wirkt“, erzählt sie. Dass sie beide, auch die gesunde, deutlich jüngere Ehefrau, begleitet hat, ist keine Ausnahme. „Der Mann hatte große Sorgen wegen seiner Frau. Er hatte immer alles organisiert, und jetzt sollte seine Frau alles übernehmen. Kontakt zur Pflegekasse, ein Pflegebett bestellen, vieles regeln. Die Mutter der Ehefrau war zur gleichen Zeit todkrank. Das war extrem belastend für sie“, erklärt Iris Biedermann. Dass sie diese Last leichter machen konnte, habe sie selbst glücklich gemacht.
Der letzte große Wunsch: Den Eiffelturm aus Lego nachbauen
„Der Mann hatte noch einen großen letzten Wunsch: mit Lego die Londoner Tower-Bridge und den Eiffelturm nachbauen. Wir haben viele Stunden lang die vielen Legosteine sortiert. Den Eiffelturm zu bauen hat er selbst leider nicht mehr geschafft, die Kraft reichte nicht mehr. Aber sein Sohn hat es für ihn getan und er hat vom Bett aus zugeschaut: Dieses Strahlen in seinen Augen werde ich nie vergessen“, erinnert sie sich.
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Letzte Wünsche erfüllen, glückliche Momente schenken, sind wesentliche Bestandteile der Arbeit. „Für mich sind die Begleitungen auch eine Auszeit von der Alltagshektik. Ich schaue nicht auf die Uhr, stelle mich in Ruhe mental auf den Menschen ein“, erklärt die 65-Jährige. Dabei sei es ihr auch schon bei manchem gelungen, die Lust am Rest des Lebens neu zu wecken. Nur einmal, da habe sie selbst stark gelitten. „Das war im Corona-Lockdown. Da konnte ich nur über das Fenster und das Smartphone mit einem älteren Herrn kommunizieren, auch wir durften nicht ins Heim. Das war grausam“, denkt sie mit sichtlichem Schaudern zurück.
Anja Mertins-Krebs ist seit fünf Jahren Sterbebegleiterin. Auch sie kam über die eigene Mutter, die in einer Demenz-Wohngemeinschaft lebt, dazu. Sie begleitet vorwiegend demenziell beeinträchtigte Schwerstkranke. „Das ist eine besondere Herausforderung, aber auch eine schöne. Ich habe mich sehr damit befasst, viele Weiterbildungen gemacht, von Aromatherapie bis Waldbaden. Bei Menschen mit schwerer Demenz spielen die Sinne eine wichtige Rolle. Düfte, Aromen und vor allem die Natur bringen viele schöne Erinnerungen zurück. Gänseblümchen zum Beispiel zaubern vielen ein Lächeln ins Gesicht, schöne Erinnerungen an daraus geknüpfte Armbänder, ‚Er liebt-mich, er-liebt-mich-nicht-Spiele‘“, hat sie oft beobachtet. Auch ein starker Tabakgeruch kann einen Glücksmoment bescheren, als Erinnerung an den verstorbenen Partner.
Entlastung von schlimmen Kriegserinnerungen fällt bei Außenstehenden leichter
Was auch zur Begleitung Demenzerkrankter gehöre: „Mir als Außenstehende erzählen viele dieser Menschen tief verschüttete Erinnerungen, die sie stets für sich behalten haben. Schlimme Erinnerungen, mit denen sie die Familie nicht belasten wollten. Aus dem Krieg, von auf der Flucht beerdigten Kindern, Vergewaltigungen, Gräueltaten.“ Das Zuhören muss man aushalten. Das gilt auch für jene Geschichten, die immer wieder erzählt werden, manchmal in Endlosschleifen. „Das ist für Angehörige oft sehr anstrengend, aber ich kann das mit etwas Abstand gut“, versteht die Expertin. Geschichten vorzulesen hingegen sei oft etwas sehr Beglückendes für die Betroffenen, hat Anja Mertins-Krebs festgestellt.
Dasein, Zuhören, Aushalten und das normale Leben in den so stark reduzierten Alltag der Sterbenden bringen: Das sind Hauptanforderungen an die Begleitenden. Dabei gilt für alle: Es ist eine sinnstiftende Tätigkeit, die den meisten Begleiterinnen auch eine hohe Lebensqualität beschert, wie zahlreiche Studien bestätigt haben. Aber für alle Helfenden gilt zugleich das Gebot, stets das eigene innere Gleichgewicht zu prüfen, für Ausgleich zu sorgen und auch mit sich selbst achtsam zu sein. Alle Mitarbeitenden bekommen regelmäßig auch Supervision.
Plätze frei in neuen Befähigungskursen für Sterbebegleitung
Der ambulante Hospiz-Verein, vor 25 Jahren vom (heute noch als Vorstand agierenden) Pfarrer Henning Disselhof und 22 weiteren sozial in Kirche und Gesellschaft engagierten Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchenern gegründet, ist Teil eines breiten Palliativ-Netzwerkes, das Menschen in der Stadt ein Sterben in Würde ermöglichen will. Die Vereinsmitglieder betreuen Menschen in ihrem Zuhause. Zum Netzwerk gehören zudem das Emmaus-Hospiz, der Palliativmedizinische Konsiliardienst und die Psychosoziale Krebsberatung.
Bei der den Ehrenamtlern gewidmeten Feier des 25-Jährigen in der Kaue hatte der Verein auch einen Experten aus Wien geladen, der im Interview mit Vorstandsmitglied Corinna Lee den Helferinnen und Helfern Tipps zum Umgang mit schwierigen Situationen gab.
Wer sich selbst im Bereich Sterbebegleitung engagieren möchte, hat bald Gelegenheit, sich dafür ausführlich unter fachlicher Anleitung fortbilden zu lassen. Bei den Befähigungskursen des Vereins im März 2025 sind noch Plätze frei. Wer Bedenken hat, ob er oder sie sich das zutrauen kann, kann sich auch im Vorfeld beraten lassen. Und auch nach Abschluss der Ausbildung, so versichert das Team, gibt es zahlreiche Unterstützungsangebote und Gemeinschaftsangebote für die Teammitglieder.
Informationen zu den neuen Kursen gibt es beim Hospiz-Verein unter Telefon 0209 8182352 sowie per E-Mail an GelsenkirchenerHospiz-Verein@t-online.de