Dortmund. Inge Gebhardt bekommt 670 Euro Rente. Als Seniorin in den 70ern ist sie in guter Gesellschaft. Warum Altersarmut häufig Frauen trifft.
Inge Gebhardt grüßt die Menschen hinter den Tischen der Seniorentafel Dortmund-Hörde wie alte Freunde. Noch ist ihr Einkaufstrolley, den sie liebevoll „Hackenporsche“ nennt, leer. Die Rentnerin prüft das Angebot, lässt sich beraten. „Möchten Sie Marmelade?“, fragt eine Frau. „Was gibt‘s denn für Sorten?“, möchte Gebhardt wissen. Als sie am Ende der aufgereihten Tische angekommen ist, stapeln sich Öl, Marmelade, Taschentücher, Toilettenpapier, Plätzchen und Rotkohl in ihrem Wägelchen.
Guten Kaffee nimmt Gebhardt besonders gern mit. Sie ist 75, wohnt in einer 44 Quadratmeter großen Wohnung in Dortmund-Asseln und erhält 670 Euro Rente, zusätzlich Wohngeld und Grundsicherung. Wie viel sie insgesamt bekommt, möchte die Rentnerin nicht verraten. Dass sie bedürftig ist, bestätigt uns die Initiative Seniorenglück, deren Seniorentafel Gebhardt jeden Monat besucht. Auch bei der Dortmunder Tafel deckt sie sich wöchentlich mit Lebensmitteln ein. Mit ihrem Geld käme sie sonst nicht aus: „Der Monat ist immer zu lang.“
Dortmunderin in Altersarmut: Haustiere oder den Besuch im Café kann sie sich nicht leisten
Wie Gebhardt geht es vielen Rentnerinnen und Rentnern. Laut Zahlen von IT.NRW waren 2022 17,3 Prozent der Menschen ab 65 Jahren armutsgefährdet. Sie haben monatlich 1166 Euro oder weniger. Jahr für Jahr stocken immer mehr Menschen mit der Grundsicherung im Alter auf. Inge Gebhardt ist eine von ihnen.
Per Definition lebt sie in relativer Armut: Sie hat ein Dach über dem Kopf, Essen und Trinken auf dem Tisch. Wo sie kann, spart die Dortmunderin – an Kleidung, Nahrungsmitteln, Strom- und Heizkosten. Einen Nachmittag im Café kann sie sich nicht leisten, eine kaputte Waschmaschine nicht aus eigenen Mitteln ersetzen.
Seniorenglück sammelt Spenden vor Supermärkten
Vor zwei Jahren sah Inge Gebhardt im Fernsehen einen Beitrag über „Seniorenglück“. Der Dortmunder Verein bietet seit 2020 neben den Seniorentafeln auch gemeinsame Mittagessen oder Ausflüge für bedürftige Rentnerinnen und Rentner an. Die ehrenamtlichen Mitglieder stehen regelmäßig vor Supermärkten in Dortmund und sammeln Lebensmittel und Hygieneartikel.
Seit vergangenem Jahr wenden sich immer mehr Bedürftige an den Verein. „Das nimmt drastisch zu“, sagt Cornelia Sbosny, Vorstandsvorsitzende und Gründungsmitglied. Die Inflation erschwere den Seniorinnen und Senioren das Auskommen mit niedrigen Renten.
Viele Senioren schämen sich, um Hilfe zu bitten
Trotz ihrer Not: Inge Gebhardt habe sich überwinden müssen, zum ersten Mal bei Seniorenglück anzurufen. Sbosny kennt diese Anfangszweifel. „Viele schämen sich“, sagt sie. Aus demselben Grund bezögen einige keine Grundsicherung und kein Wohngeld. Sobald sie sich aber einmal zu den Tafelnachmittagen oder gemeinsamen Ausflügen des Vereins trauten, kämen die meisten zurück, versichert die Vorsitzende: „Hier entstehen wahre Freundschaften.“
„Die sind alle so toll hier“, schwärmt auch Inge Gebhardt. Bei ihrem ersten Besuch fand die Rentnerin Gleichgesinnte: Alte Menschen, die trotz kleiner Renten ihr Leben genießen wollen. Vor allem weibliche. „Zu uns kommen zu rund 95 Prozent Frauen“, bestätigt Sbosny.
Altersarmut: Frauen trifft es besonders häufig
Zahlen von IT.NRW belegen: Frauen sind tatsächlich häufiger von Altersarmut betroffen. Während 19,6 Prozent der Frauen ab 65 Jahren 2022 armutsgefährdet waren, betraf Altersarmut nur 14,5 Prozent der gleichaltrigen Männer. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts sind die Alterseinkünfte von Frauen rund ein Viertel niedriger als die ihrer männlichen Altersgefährten. Laut Sbosny liegt das vor allem daran, dass Frauen wegen des Haushalts und der Kindererziehung häufig gar nicht oder nur in Teilzeit arbeiten.
So auch Gebhardt: Die 75-Jährige ist gelernte Bürokauffrau. Nach der Geburt ihrer beiden Kinder hat sie rund zehn Jahre lang wenig gearbeitet, es riss das erste Loch in ihr Rentenkonto. Das zweite tat sich auf, als sie gemeinsam mit ihrem Mann ein Foto- und Schreibwarengeschäft eröffnete. Häufig arbeitete sie mehr als zehn Stunden am Tag, doch neben Steuern und Krankenversicherung sei für die Rentenkasse nichts übrig geblieben. Nachdem sie das Geschäft schließlich wegen zu großer Konkurrenz aufgaben, nahm Gebhardt Gelegenheitsjobs an. Weil sie erkrankte, musste sie schließlich aufhören zu arbeiten.
Die Initiative Seniorenglück macht auch gemeinsame Ausflüge möglich
Über ihre Vergangenheit sprechen die Rentnerinnen und Rentner bei Seniorenglück selten. „Ich sag‘ immer: Vergangenheit ist Vergangenheit“, sagt Gebhardt. Überhaupt ist ihr wichtig, die Gegenwart so schön wie möglich zu gestalten. Gern geht sie spazieren, strickt vor dem Fernseher oder spielt bei der AWO Rommé. In der Bücherei leiht sie sich kostenlos Romane, die sie am Abend liest – wenn es spannend wird, gern auch mal bis in die frühen Morgenstunden.
Seit sie ihre Haare statt in gefärbtem Rot oder Lila weiß trägt, kleidet sich die gelernte Bürokauffrau bunt: Am Nachmittag bei der Seniorentafel trägt sie einen Pullover mit pinken und lila Streifen nebst violetter Brille. Dank des Vereins kommt sie regelmäßig raus. „Das ist das Schönste überhaupt“, sagt sie. Vergangenes Jahr ging es in die Niederlande zum Käsemarkt und zum botanischen Garten „Keukenhof“. Gebhardts Wohnzimmertisch zieren seither Tulpen aus Holz.