Essen. Über 830.000 Menschen in Deutschland stottern. Im Alltag erleben Betroffene bei anderen viel Unsicherheit: Den Satz beenden oder lieber abwarten?

Mehr als 830.000 Menschen in Deutschland stottern, rund ein Prozent der Gesamtbevölkerung. Für viele Betroffene ist Stottern nicht nur eine Sprachbarriere, sondern auch eine erhebliche Belastung im Alltag. Oft herrscht auch im sozialen Umfeld Unsicherheit darüber, wie man sich richtig verhalten sollte. Vollende ich den Satz, wenn jemand stottert und das Wort nicht herauskommt? Schaue ich weg? Wie verhalte ich mich richtig? Die Logopädin Anke Kohmäscher von der Fachhochschule Münster forscht zu dem Thema. Im Interview räumt sie mit Vorurteilen auf und gibt Handlungstipps.

Was ist Stottern?

Stottern ist eine neurologisch bedingte Störung, die den Redefluss beeinträchtigt. Sie äußert sich durch häufige Unterbrechungen im Redefluss, Wiederholungen, Blockaden oder Dehnungen von Lauten, Silben und Wörtern, häufig begleitet von körperlichen Reaktionen wie Muskelanspannungen. Die Kernsymptome können von Person zu Person variieren und je nach Situation und persönlicher Verfassung unterschiedlich häufig und ausgeprägt auftreten. Wer stottert, weiß aber ganz genau, was er sagen möchte.

Gibt es verschiedene Formen?

Man unterscheidet eigentlich drei Arten: Das idiopathische Stottern beginnt im Kindesalter und ist die „typische“ Form.
Das erworbene Stottern tritt seltener auf, oft im Erwachsenenalter, zum Beispiel bei Schlaganfallpatienten, bei Parkinson-Patienten oder auch bei Tumor-Patienten. Das psychogene Stottern kann nach Traumata auftreten, auch bei Erwachsenen, die zuvor flüssig gesprochen haben.

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Was sind die Hauptursachen für das „typische“ Stottern?

Genetische Faktoren spielen eine große Rolle. Manche Menschen tragen die Anlage in sich, fangen aber nie an zu stottern. Doch das ist sehr selten. Ob und wann Stottern tatsächlich auftritt, hängt von verschiedenen Umweltfaktoren ab. Ich erkläre das immer so: Man trägt die Veranlagung in sich, und irgendwann in der Kindheit kann es dazu kommen, dass das Stottern erstmalig auftritt. Typischerweise beginnt es im Alter zwischen 2 und 5 Jahren auf. Stottern tritt dann zum Beispiel auf, wenn Kinder einen Sprung in der Sprachentwicklung machen, aber das motorische System, bei dem beim Sprechen etwa hundert Muskeln präzise zusammenarbeiten müssen, noch nicht optimal abgestimmt ist.

Weitere auslösende Faktoren können etwa ein Umzug, die Trennung der Eltern oder der Verlust einer nahestehenden Person. Entscheidend ist, dass solche Ereignisse das Stottern nur dann auslösen, wenn die Veranlagung dafür schon vorhanden ist. Welche Faktoren schließlich dazu führen, dass das Stottern bestehen bleibt, ist für eine Stottertherapie viel relevanter als die Ursachenklärung. Wichtig ist: Man sollte weg von der Schuldfrage – allein äußere Einflüsse verursachen kein Stottern.

Dann ist es auch vererbbar?

Ja, wenn ein Elternteil stottert, ist das Risiko für das Kind erhöht. Es muss deswegen aber nicht anfangen zu stottern.

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Kann Stottern therapiert oder sogar „geheilt“ werden?

Man muss unterscheiden zwischen Stottern im Kindes- und dem im Erwachsenenalter. Etwa fünf Prozent aller Kinder stottern. In jungen Jahren sind die Chancen höher, dass sie damit auch wieder aufhören. Wir nennen das „Remission“. Davon spricht man, wenn in zwölf Monaten keine, oder so gut wie keine Stotter-Symptome aufgetreten sind. Bei etwa 70 bis 80 Prozent aller Kinder geht das Stottern wieder weg. Teilweise auch ohne Therapie. Man sagt eigentlich, dass eine Remission bis zur Pubertät möglich ist, aber die Wahrscheinlichkeit mit zunehmendem Alter abnimmt und im Erwachsenenalter sehr selten ist.

Die Lidcombe-Therapie ist eine bekannte Methode, bei der die Eltern junger Stotterer eine entscheidende Rolle spielen. Sie loben flüssiges Sprechen und stärken das Kind aktiv – dies fördert die Sprechflüssigkeit und -freude. Im Erwachsenenalter verschiebt sich der Fokus darauf, mit dem Stottern gut leben zu lernen. Da wird heute häufiger die sogenannte Stottermodifikation angewendet. Hier lernen Betroffene, sich leichter aus Sprechblockaden zu lösen, die Angst vor dem Sprechen zu überwinden und das Stottern als Teil ihrer Persönlichkeit anzunehmen. Andere Therapieverfahren konzentrieren sich auf das Aneignen einer neuen Sprechweise. Ergänzend können Selbsthilfegruppen wertvolle Unterstützung bieten.

Wie sehr schränkt Stottern die Betroffenen im Alltag ein?

Das kann einen gravierenden Einfluss auf den Alltag haben. Studien zeigen, dass stotternde Menschen oft nicht die Berufe ergreifen, die sie sich eigentlich wünschen – zum Beispiel sprechintensive Berufe wie als Lehrkraft –, da sie befürchten, dass ihr Stottern hinderlich für ihre Karriere sein könnte. Besonders in Bewerbungsgesprächen empfinden sie häufig einen erhöhten Druck. Im Erwachsenenalter treten vermehrt soziale Angststörungen und Depressionen auf.

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„Menschen sollten nicht nur auf ihr Stottern reduziert werden. Sie sind Menschen, die auch stottern.“

Anke Kohmäscher

Da spielt doch bestimmt auch Scham eine große Rolle.

Das ist für viele Personen ein großes Problem: die Hilflosigkeit, wenn sie etwas erzählen wollen und dann zum Beispiel bei einem Laut hängenbleiben. Das ist ein Kontrollverlust. Wenn man schon in der Kindheit erlebt, dass Menschen lachen oder komisch darauf reagieren, dann ist eine häufige Reaktion darauf, dass Betroffene es vermeiden, zu sprechen. Das kann zu sozialem Rückzug führen. Nervosität ist dann oft ein verstärkender Faktor. Menschen sollten nicht nur auf ihr Stottern reduziert werden. Sie sind Menschen, die auch stottern.

Haben stotternde Menschen mit Vorurteilen zu kämpfen?

Die Liste von Vorurteilen ist lang. Manche Menschen denken, dass Stottern etwas Psychisches ist. Das ist nicht so und widerspricht auch dem genetischen Ansatz. Ein weiteres Vorurteil ist, dass stotternde Menschen dümmer sind als andere. Auch das stimmt nicht und ist sogar wissenschaftlich widerlegt. Dass Stottern eine Atemstörung ist oder durch Erziehungsfehler verursacht wird, auch das stimmt nicht. 

Wie kann sich das Umfeld besser verhalten?

Stottern ist häufig noch ein Tabuthema. Viele Menschen wissen gar nichts darüber und sind deswegen häufig überfordert, wenn sie dann mit einer stotternden Person kommunizieren. Häufige Fragen sind zum Beispiel: Soll ich jemanden anschauen, wenn er stottert? Da ist die Empfehlung: Ja, auf jeden Fall. Belastend ist natürlich, wenn jemand lacht, vielleicht auch aus Unsicherheit. Gar nicht sinnvoll ist es, wenn man die Sätze für jemanden vollendet. Das passiert sehr häufig. Besser ist, einfach mal abzuwarten und zu signalisieren: Ich möchte wissen, was du zu sagen hast und dafür nehme ich mir die Zeit.

Hier gibt es Infos für Betroffene

Am Zentrum für interprofessionelle Therapie und Prävention (ZiTP) in Münster gibt es eine Beratungsstelle für Betroffene. Anke Kohmäscher ist unter anderem Ansprechpartnerin, Kontakt per E-Mail: anke.kohmaescher@fh-muenster.de.

Die Bundesvereinigung Stottern und Selbsthilfe e.V. ist ein gemein­nütziger Verein, gegründet von Stottern­den für Stottern­de und ihre Ange­hö­ri­gen. Hier können sich Betroffene informieren und auch Unterstützung bei der Suche nach einer Selbsthilfegruppe in der Nähe bekommen. Infos unter: www.bvss.de, per E-Mail unter info@bvss.de oder telefonisch unter 0221 139 1106 (Mo-Fr 10-13 Uhr, zusätzlich Do 16-18 Uhr).