Bochum. Die Kampfsport-Runde beginnt im Stuhlkreis. Gewinnen heißt hier nicht Schlagen. Gekämpft wird trotzdem, sogar mit harten Bandagen.
Hadi haut rein. Mit voller Kraft. In schnellem Rechts-Links-Wechsel gegen die Pratzen in den Händen der Trainerin. 15 Minuten werde er durchhalten, hat der Elfjährige großspurig angekündigt. Nach anderthalb sind seine Arme müde, keuchend lässt er die Boxhandschuhe sinken: „Ich kann nicht mehr.“ Die Trainerin, Carolin Hoffmann, freut’s: „Wieder was gelernt“, meint die 41-Jährige. Denn in diesem Ring in der Bochumer Quartiershalle „Ko-Fabrik“ geht es nicht um Leistung. Hier wird nicht geboxt, um andere zu schlagen. Hier beginnt jedes Training im Stuhlkreis. Das hier ist „Therapeutisches Boxen“, ein Angebot für Kinder, Jugendliche und Erwachsene – die zu kämpfen haben.
Im September ist in Bochum der vierte „Therapeutisches Boxen“-Kurs gestartet. Carolin Hoffmann und ihre Mitstreiter Kevin Fröhlich (34) und Tobias Tomczak (33) gehören zu den wenigen Anbietern, im Ruhrgebiet gibt es nur zwei weitere, in Dortmund und Haltern. Schon vor zwei Jahren machten sich die drei Mitarbeitenden der nahen Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung Vinzenz als „Komma Klar“- Team mit eigenem Fort- und Weiterbildungskonzept selbstständig. Ihre Arbeitszeit bei Vinzenz reduzierten sie dafür. Die drei sind studierte Erzieher und Sozialpädagogen sowie ausgebildete Antigewalttrainer.
Marit mag, „dass man hier nicht sofort voll auf die Schnauze kriegt“
Marit sagt, sie habe mentale Probleme. Über ein Jahr lang habe sie es nicht geschafft, zur Schule zu gehen. In der Vinzenz-Tagesgruppe „Unicus“ für Jugendliche mit Schulangst lernte sie Kevin Fröhlich und das Boxen kennen – und blieb dabei. Sie möge sogar die Befindlichkeitsrunde im Stuhlkreis vor dem Warm-up, sagt die 16-Jährige, „dass man hier nicht sofort voll auf die Schnauze kriegt. Die anderen nehmen Rücksicht, wenn ich schlecht drauf bin.“
Therapeutisches Boxen kombiniert Boxen und Therapie. „Schon wenn die Teilnehmer die Handschuhe überstreifen, ändert sich ihre Körperhaltung“, findet Kevin Fröhlich. Das Training in kleinen Gruppen, im geschütztem Raum baue negativen Stress ab, es löse emotionale Blockaden; es stärke Selbstwahrnehmung, -bewusstsein und -behauptung. Entwickelt hat das Konzept das Institut für Systemische Traumaarbeit, Trauma & Sport in Hannover (PITT-Praxis).
Boxen ist „bilaterales Hemisphären-Training“
Selbst an schlechten Tagen fühle sie sich nach dem Training wohler, erzählt Marit. „Ich merke, wie mein Kopf beim Boxen aktiver wird. Wie mein Körper versucht abzubauen, was sich angestaut hat. Wut, Angst oder Trauer.“ „Ganz sanft“ fühle sich das an.
Therapeutisches Boxen, erläutern Fröhlich und Hoffmann, die wie Tobias Tomczak auch privat boxt, mache tatsächlich „etwas mit dem Kopf“ – es sei „bilaterales Hemisphären-Training“: Beim Boxen müssen linke und rechte Gehirnhälfte kooperieren. Das schafft neue Synapsen. Durch gezielte Übungen wie „Zahlenboxen“ könne diese Wirkung zusätzlich angeregt werden. Und wenn Marit für Hadi die einzelnen Zahlen-Kombis ansagt, lernt sie ganz nebenbei auch noch, dass sie nicht flüstern darf, wenn man ihr zuhören soll.
„Schwaches Bein vor, schwache Hand vor, immer an die Deckung decken“
Hadi ist noch ein Anfänger, aber er kennt die strengen Regeln, die fürs Training gelten, bereits auswendig. Gerade referiert er noch einmal die Grundhaltung: „Schwaches Bein vor, schwache Hand vor, immer an die Deckung denken!“ Dann darf er auf den „Doppelendball“ eindreschen. „Pass nur auf, der kommt zurück“, warnt ihn Carolin Hoffmann.
„Wir achten auf die richtigen Techniken, aber wir bilden keine Profiboxer aus. Wir arbeiten gezielt an persönlichen Problematiken.“
„Wir achten auf die richtigen Techniken, aber wir bilden keine Profiboxer aus“, erläutert Kevin Fröhlich. „Wir arbeiten gezielt an persönlichen Problematiken.“ Das kann zu große Angriffslust sein. Oder mangelnder Wille, sich zur Wehr zu setzen. Burnout, ADHS, Depressionen, Mobbing-Erfahrungen.... Eine junge Mutter, erzählt Fröhlich, habe sich jüngst angemeldet, weil sie Sorge hatte, es könne gefährlich enden, wenn sie nicht endlich mal „runterkommt“. „Sie hatte beobachtet, dass ihre Zündschnur immer kürzer geworden war.“
Kampfsport für Gewaltbereite?
„Wir ersetzten keine Psychotherapie, und ein achtwöchiger Kurs ist nicht die Lösung für alles“, betont Carolin Hoffmann, „aber wir stoßen etwas an – und wir können ein Pfeiler sein, für jemanden, der weiß, dass er sieben Monate auf die Therapie warten muss.“
„Wir ersetzten keine Psychotherapie (...) aber wir können ein Pfeiler sein, für jemanden, der weiß, dass er sieben Monate auf die Therapie warten muss.“
In der Mädchen-Jugendarrest-Anstalt in Wetter wird schon eine ganze Weile therapeutisch geboxt, das Angebot komme super an, sagt das „Komma Klar“-Trio. Es integriert das Boxen dort in sein wöchentliches Anti-Gewalt-Training. Kampfsport für Menschen mit zu viel Wut im Bauch? „Gerade die sollten lernen, sie zu kontrollieren“, sagt Hoffmann.
Für einen Kurs (acht Einheiten plus Infoabend und Einzelgespräche) berechnet „Komma Klar“ 284 Euro. Die Krankenkassen zahlen noch nicht dafür, „Wir arbeiten aber dran“, sagt Fröhlich. Erste Sponsoren für das Projekt hätten sich bereits gefunden, nach weiteren wird gesucht.
„Hier ist immer jemand, mit dem ich reden kann“
Was kann man beim Boxen lernen, was man in der Schule nicht lernen kann? Marit lacht. „In der Schule lernt man doch nur Deutsch. Mathe und Englisch. Überhaupt nichts über Gefühle. Früher habe ich meine nie reflektiert, hier lerne ich sehr viel über meinen Körper und meinen Kopf und wie man mit sich und anderen umgehen sollte.“ Hier sei zudem immer jemand, „mit dem man reden kann“, ganz anders als in der Schule. Sie sei nie zuvor „so ernst genommen worden“. Und alle wüssten: Jeder hier hat Probleme. „Für mich ist das ein totaler safe place.“
Hadi bekommt beim Zeitboxen im Übrigen eine zweite Chance. „Zwei Minuten“, sagt er an – und legt ein wenig langsamer los als beim ersten Versuch. Als Kevin Fröhlich die letzten Sekunden runterzählt, hat der junge Boxer sogar noch Kraft genug übrig, um an Tempo zuzulegen. Alle, die dabei sind, applaudieren. „Du bist echt eine Maschine“, lobt Marit. Hadi sagt: „Hab wohl was gelernt.“