Essen. Der 42-Jährige bereut heute, dass er seine Herzschwäche viel zu lange ignorierte. Erst als er sein Leben schon verloren hatte, begriff er.

In Sebastians Brust schlägt ein fremdes Herz. Ohne das Spenderorgan wäre er längst tot. Dabei hat der 42 Jahre alte Maler und Lackierer aus Essen lange gar nicht wahrhaben wollen, wie ernst es um ihn stand, wie schwach sein eigenes Herz tatsächlich war.

2016, auf einer Baustelle in Aachen, ereilt Sebastian der erste Schwindelanfall. Er schiebt es auf das feuchtfröhliche Treffen mit seinen Kumpels am Vorabend. „Ist gleich wieder gut“, denkt der damals erst 34-Jährige. Ein besorgter Kollege will ihn dennoch heimfahren, muss aber schon auf halber Strecke einen Rettungswagen rufen, der Sebastian ins Krankenhaus bringt. Ein Kardiologe diagnostiziert wenig später eine „Dilatative Kardiomyopathie“. „Sie sind schwer herzkrank“, erklärt er Sebastian.

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Im Wartezimmer des Hausarztes bricht er zusammen

„Ich hatte nichts geahnt“, erinnert sich der Essener. Und er will auch nach der Diagnose nichts wissen von Herzschwäche, Rhythmusstörungen oder Kammerflattern. Sebastian lehnt den Gentest ab, den die Ärzte empfehlen, als sie hören, dass schon sein Vater herzkrank gewesen sei. Er wehrt sich gegen den Defibrillator, den sie ihm implantieren wollen. Er schiebt seine Kurzatmigkeit auf die Schachtel Zigaretten, die er täglich raucht. „Ich war jung, ich stand mitten im Leben. Da will man nicht krank sein“, erklärt er.

Fast vier Jahre geht das mehr oder weniger gut. Doch Anfang 2020 fängt sich Sebastian eine Erkältung ein, die er nicht loswird. „So wie du aussiehst, kannst du nicht arbeiten“, befinden die Kollegen, bringen ihn zu seinem Hausarzt. Im Wartezimmer bricht Sebastian zusammen. Eine Stunde lang reanimiert ihn der Arzt. „Er wollte nicht aufgeben“, sagt Sebastian, dem man das hat erzählen müssen. In seiner eigenen Erinnerung klaffen gewaltige Lücken. Doch er weiß noch, dass er damals endlich begriffen habe: Es ist ernst. Als er aufwacht auf der Intensivstation, „intubiert und fixiert, fünf Ärzte drumherum“.

Ein „Berlin Heart“ als Übergangslösung

Von den folgenden acht Monaten verbringt er eine einzige Woche daheim. Er landet an der ECMO, einer künstlichen Herz-Lungen-Maschine, erhält einen Defibrillator, erfährt, dass seiner Herzinsuffizienz eine Genveränderung (LMNA-Mutation) zugrunde liegt, kommt in eine Reha-Klinik, und wieder zurück nach Essen, weil seine Luftnot immer schlimmer statt besser wird. „Ich hab wohl im Sterben gelegen“, erzählt Sebastian, „weiß selbst aber nur, dass ich fast stehend schlafen musste, sonst wäre ich erstickt.“ Die Ärzte entscheiden nach einem weiteren „Blackout“, ihn an ein „Berlin Heart“ anzuschließen; ein Kunstherz, das die Pumpfunktion beider Herzkammern unterstützt.

Sebastian Nogas Herz war so schwach geworden, dass er 2022 ein neues Herz erhielt. Wie es dazu kam. Zum Auftakt der „Herzwoche“ am Uniklinikum Essen. Im Bild: Christiane Jungen

„Weltweit wurden bislang erst 5200 Patienten in 49 Ländern mit einem solchen Berlin Heart versorgt.“

Dr. Christiane Jungen,

„Weltweit“, erläutert Dr. Christiane Jungen, Oberärztin in der Kardiologie der Uniklinik Essen, „wurden bislang erst 5200 Patienten in 49 Ländern mit einem solchen Berlin Heart versorgt.“ Das Kunstherz ist in einem Trolley untergebracht, den der Patient hinter sich herzieht. Über vier Gartenschlauch-dicke Kanülen, die in den Oberkörper hinein- und wieder herausführen, pumpt es das Blut durch den Körper. „Das eigene Herz wird dabei nur noch als Medium genutzt, die Funktion ist ausgelagert“, erklärt Jungen.

Ein Herz im Trolley

Sebastian erschrickt, als er nach der Operation sein Exo-Herz zum ersten Mal sieht; so gewaltig groß hatte er es sich nicht vorgestellt. Und er erzählt, dass er sich damit kaum besser gefühlt habe, dass ihm längere Wege unmöglich gewesen seien. Dass er, der so gern in der Natur unterwegs sei, sich „eingesperrt“ gefühlt habe. Und dass er vor jedem Duschen meterweise Frischhaltefolie um die Anschlüsse seines Kunstherzens wickeln musste. Doch er sagt auch: „Ohne Berlin Heart säße ich heute nicht hier.“

Von Anfang an ist klar: Selbst das „Berliner Herz“ wird Sebastian nicht retten, es ist nur eine „Bridge to Transplant“, eine Übergangslösung, bis ein Spenderherz für ihn gefunden ist. Im November 2020 wird Sebastian als potenzieller Empfänger „gelistet“. Und lernt: Auf einen Spender kommen drei, die darauf warten. Im Schnitt tun sie es zwei Jahre – erklärt ihm Lars Michel, Herzinsuffizienz-Experte und Oberarzt im Westdeutschen Zentrum für Organtransplantationen (WZO) der Uniklinik Essen.

Den Herzschlag spüren: „Da stimmt etwas nicht“

Sebastian wartet länger. Bis zum 30. Juni 2022. Nur einen Tag, nachdem er als „Hochdringlichkeitsfall“ eingestuft worden ist, heißt es: „Wir haben ein Herz für Sie.“ Sebastian alarmiert seine Frau, weiß nicht, ob er weinen oder lachen soll. Richtig freuen kann er sich nicht. „Ich hatte Angst, es nicht zu schaffen“, erinnert er sich. Elfeinhalb Stunden dauert die Operation, deutlich länger als eine normale Herztransplantation. Das Kunstherz muss ja zuvor entfernt werden. Sebastians fühlt sich „sehr seltsam“, als er aus der Narkose erwacht, sein erster Gedanke ist: „Da stimmt etwas nicht.“ Dann begreift er: Es ist der Herzschlag, den er nun spürt. „Ich kannte das gar nicht.“

Herzschwäche: Viele sind betroffen, wenige verstehen, warum
In der Nähe des Graffiti-Herzens im Essener Uniklinikum fühlt sich Sebastian noch immer wohl. Zweieinhalb Jahre zog er ein Kunstherz im Trolley hinter sich her. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Damals fragt er nicht nach dem Spender, doch jetzt wird er den Angehörigen einen Brief schreiben – um sie wissen zu lassen, wie dankbar er ist für das „Geschenk“, das sein Leben rettete. Frühestens zwei Jahre nach dem Eingriff vermittelt die Deutsche Stiftung Organtransplantation solche Briefe. „Es ist mir sehr wichtig, das zu tun“, sagt Sebastian.

Die Weltreise fällt aus

Denn heute geht es ihm wieder gut, er arbeitet sogar wieder im Büro seines alten Betriebs. Er bereut, dass er seine Herzschwäche so lange ignoriert, dass er nicht früher auf seine Ärzte gehört, dass er sich „eigentlich allem verweigert“ habe. Längst hat er mit dem Rauchen aufgehört, er versucht etwas mehr Sport in seinen Alltag zu integrieren und sich gesund zu ernähren. „Ich bin chronisch krank, ich muss Medikamente nehmen, ich trage Maske, wenn ich unter die Leute gehe, ich muss mich vor Infekten schützen. Aber es ist, wie es ist. Ich kann so froh sein, dass ich überhaupt noch hier bin.“ Die Weltreise, von der er einst träumte, die werde er vermutlich nicht mehr machen, sagt Sebastian. „Aber dafür kann ich wieder baden, einfach so.“

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