Essen. Im Herbst beginnt die Infektionszeit. Wie ist die Lage? Was schützt? Taugen alte Tests noch? Und: Gibt es genug Impfstoff?

Welche Viren sind derzeit „virulent“?

Rhino- und andere Erkältungsviren sowie Sars-CoV-2, das Coronavirus, laut Robert-Koch-Institut. In seinem Wochenbericht heißt es: Die Zahl aller Atemwegsinfektionen sei derzeit „stabil, auf einem vergleichsweise hohen Niveau“. Das Landeszentrum Gesundheit meldet für das Ruhrgebiet am Montag 439 Covid-19-Fälle (landesweit: 1355), zwölf Influenza-Erkrankte (31), neunmal Pneumokokken (35) und drei RSV-Fälle (7).

Professor Ulf Dittmer, Chef-Virologe des Universitätsklinikums Essen, spricht von einer „regen Infektionslage“. „Wir sehen zum Glück nicht viele schwere Fälle, an unserer Klinik ist die Lage noch sehr entspannt. Aber wir sehen viele Corona- oder Rhino- und Adenovirusinfektionen, die grippale Infekte verursachen – und zahlreiche Ausfälle bei Mitarbeitenden.“ Bei Corona dominierten aktuell die FLiRT-Varianten von Omikron das Geschehen, KP1 bis KP3.

Gibt es eigentlich noch Infektionswellen?

Aus Kitas im Revier hört man: Eigentlich sei die Infektionswelle nach der Pandemie nie vorbei gewesen, irgendwer sei immer krank, anders als früher. „Viele hoffen, dass im Sommer die Infektionen ganz verschwinden“, sagt Dittmer. „Aber das stimmt so leider nicht, Rhinoviren kann man sich auch im Sommer einfangen – wir nennen das dann Sommergrippe. Dazu kommt: Covid-19 ist immer weniger eine saisonale Erkrankung und kommt auch im Sommer vor.“

Prof. Dr. Ulf Dittmer (Chefvirologe Universitätsklinikum Essen) sitzt am Montag, 15. November 2021 beim Pressegespräch zur aktuellen Corona-Situation in Essen im Rathaus Essen. Foto: Vladimir Wegener / FUNKE Foto Services

„Covid-19 ist immer weniger eine saisonale Erkrankung und kommt auch im Sommer vor.“

Prof. Ulf Dittmer

Ist Ursache der vielen Infektionen noch immer der „Nachholeffekt“?

Die aktuellen Zahlen sind dem RKI zufolge zwar recht stabil, liegen aber deutlich über Vor-Pandemie-Niveau. Die erste heftige Infektionswelle „nach Corona“ im Herbst/Winter 2022 und auch im Jahr danach erklärten Experten wie der Dortmunder Virologe Carsten Watzl mit einem „Nachholeffekt“: Während der Pandemie seien wegen der Hygienemaßnahmen deutlich weniger Menschen mit Atemwegserregern in Kontakt gekommen. Die „verpassten“ Infektionen würden nun nachgeholt. Die aktuellen Zahlen führt Ulf Dittmer aber „eher nicht“ auf einen Nachholeffekt zurück, der ebbe langsam ab. „Es ist vielmehr so, dass wir mit Corona nun ein zusätzliches Virus haben, das viele Infektionen verursacht, auch wenn die meisten mild verlaufen.“

Spiegeln die Zahlen die tatsächliche Corona-Situation wieder?

Die Sieben-Tage-Inzidenz, einst das Maß aller Dinge, liegt derzeit bundesweit bei 12,8 und für NRW bei 7,8. Wir erinnern uns: Auf dem Höhepunkt der Pandemie im März 2022 lag sie bei 1714... Doch seit Pandemie-Ende wird kaum noch getestet, die Zahl der laborbestätigten Fälle sagt darum wenig aus. Aber: Das Abwassermonitoring funktioniere als Parameter zur Einschätzung der Corona-Lage inzwischen sehr gut, findet Dittmer. Neben den Fallzahlen der Kliniken sei es der wichtigste. Dass dem Abwassermonitoring zufolge aktuell die Viruslast im Ruhrgebiet sogar sinke, entspreche seiner Beobachtung im eigenen Haus. „Vor drei, vier Wochen hatten wir in Essen die nach diesem Sommer bislang höchste Zahl an Covid-Patienten, jetzt sehen wir wieder eine leichte Abnahme.“

Wie viele Infektionen sind eigentlich normal?

„Zwei bis drei Infektionen jährlich sind für Erwachsene nichts Außergewöhnliches, bei Kindern sind deutlich mehr normal. Und das hat auch sein Gutes, schließlich trainieren Infektionen unser Immunsystem“, erläutert der Essener Experte. Tatsächlich gebe es sogar „inapparente“ Infektionen, „solche, von denen Sie nichts merken, die die körpereigene Abwehr aber auch stärken – das sind die besten“.

Wer braucht jetzt welche Impfung?

Vor allem die Risiko-Gruppen sollten jetzt ihre Impfungen gegen Corona sowie Grippe auffrischen, empfiehlt die Ständige Impfkommission (Stiko). Sie rät Menschen über 75 ( besonders Gefährdeten schon ab 60) zudem zu einer einmaligen Impfung gegen das Respiratorische Synzytial-Virus, die in diesem Jahr erstmals verfügbar ist. wird. Als Corona-Risikopatienten gelten unter anderem jeder und jede über 60 sowie chronisch Kranke (etwa COPD-Patienten oder Diabetiker).

„Ich weiß, dass einige Hausärzte das anders sehen“, räumt Dittmer ein, „aber auch sie sollten sich an die Stiko-Empfehlung halten, da stecken intensive Datenrecherchen dahinter.“ Risikogruppen und Über-60-Jährigen legt die Stiko zudem eine Pneumokokken-Impfung nahe (die nach frühestens sechs Jahren wiederholt werden muss).

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Kinder sollten laut Stiko möglichst vor oder zu Beginn der RSV-Saison (Oktober bis März) gegen RSV geimpft werden. Sie erhalten eine „passive Immunisierung“, bis fünf Kilo Körpergewicht 50 Milligramm Impfstoff, schwere 100 Milligramm. Nach langem Streit mit den Kinderärzten übernehmen die Krankenkassen nun auch hierfür die Kosten. Die entsprechende Verordnung erging Mitte September.

Michael Achenbach, Kinderarzt

„Dass der RSV-Impfstoff für Kinder knapp wird, war vorhersehbar.“

Michael Achenbach

Allerdings: Ist der RSV-Impfstoff für Kinder (vor allem die 100-Milligramm-Größe) noch nicht überall in ausreichendem Maß verfügbar. Erst zwei Kinder habe er in seiner Plettenberger Praxis impfen können, berichtet der Kinderarzt Michael Achenbach, stellvertretender Landesvorsitzender des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte in Westfalen-Lippe. Der Bedarf sei um ein Vielfaches größer, die Eltern zeigten eindeutig „Interesse an dieser Impfung“. Der Mangel sei indes „vorhersehbar“ gewesen, die Zeit seit September viel zu kurz, um eine funktionierende Lieferkette zu organisieren. Der Hersteller arbeite aber dran, Achenbach hofft, „dass in der nächsten oder übernächsten Woche wieder Impfstoff da sei.“ Schwierig, so der Kinderarzt, seien zudem Impfungen von Kindern, die noch nicht versichert seien, „da bewegen wir uns in einer rechtlichen Grauzone“.

In welchem Abstand sollten die Impfungen erfolgen?

Eine Studie zu einem kombinierten Corona-Grippe-Impfstoff des Pharmakonzerns Moderna sei „mysteriös“ gescheitert, die Impfantwort gegen die Grippekomponente sei zu schwach gewesen, erzählt der Virologe Dittmer. Aber beide Impfungen könnten gleichzeitig erfolgen – und dies laut Stiko sogar zusammen mit einer Pneumokokken-Impfung. Wer sich nicht am selben Tag gegen Corona und Grippe impfen lassen wolle, sollte ungefähr 14 Tage Abstand wahren, empfiehlt Dittmer. „Mitten in eine Impfreaktion hinein impft man besser nicht erneut.“

Wie kann ich mein Immunsystem sonst auf „abwehrbereit“ trimmen?

Die Standardtricks, so Dittmer, lauten: vitaminreiche Ernährung, Bewegung und frische Luft. „Viele glauben, wer sich im Winter draußen aufhält, wird schneller krank. Das Gegenteil ist der Fall, Heizungsluft trocknet die Nasen-Schleimhäute aus, und dann fängt man sich leicht eine Infektion ein, Spaziergänge oder Sport sind im Winter hervorragende-Abwehr-Trainer.“

Wie sinnvoll ist es, sich an die alten AHA-Regeln zu erinnern?

„Ich weiß nicht, ob wir das noch wollen“, sagt der Virologe, „wieder Maske tragen und Abstand halten. Irgendwann müssen wir damit aufhören.“

Wie riskant sind Treffen im größeren Kreis?

Große Gefahren für die Gesundheit sieht Ulf Dittmer etwa für die Familientreffen an den Feiertagen nicht, „es sei denn für besonders Gefährdete wie Organtransplantierte.“ Aber jeder wisse inzwischen, „dass man sich da, wo viele Menschen zusammen kommen, auch etwas einfangen kann.“

Wie sinnvoll sind Corona-Schnelltests?

Gerade vor einem Treffen mit der hochbetagten Tante oder dem lungenkranken Cousin will mancher auf Nummer sicher gehen. „Ein Test“, sagt Dittmer, „ist dann das einzig Sinnvolle.“ Alte Corona-Tests, die abgelaufen sind oder deren Flüssigkeit ausgetrocknet ist, sollten indes nicht mehr verwendet werden.

Erkennen die alten Tests die neuen Varianten?

Ja. Denn die neuen Virusvarianten veränderten sich vor allem im Spike-Protein, erläutert Dittmer. Die Tests zielten aber auch auf das „Nukleoprotein“, das sich kaum verändere. Anders als früher schlügen die neuen Schnelltests allerdings erst einen bis drei Tage nach den ersten Symptomen an. Was, wie der Virologe erklärt, an den Antikörpern liege, die inzwischen jeder von uns im Blut habe. „Die fangen das Nukleoprotein für ein, zwei Tage ab, so dass der Test es nicht findet.“

Taugen Corona-Grippe-RSV-Kombi-Tests etwas?

„Bei Corona und Grippe funktionieren sie ganz gut, bei RSV kaum. Da kann man genauso gut würfeln“, sagt der Virologe.

Test positiv, keine Symptome: Darf ich arbeiten gehen?

Mit dem Ende der Pandemie fielen die Regeln: Wer will, könnte also arbeiten gehen. „Doch auch Menschen ohne Symptome können andere anstecken“, betont Dittmer. Und das gelte für Corona wie Grippe und RSV.

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