Raus aus dem Modus permanenter Empörung, weg mit den ewigen Schuldzuweisungen. Echter Meinungsaustausch ist wichtiger denn je
Marc-André Podgornik
Essen Streit, überall nur noch Streit, könnte man meinen. Aber streiten wir wirklich miteinander? Nein. Was wir tun, ist zanken, diffamieren, runtermachen, auf unserem Standpunkt beharren, mundtotmachen. Ein wirklicher Streit, im Sinne eines Wettstreits um die besten Argumente, findet kaum noch statt. Regelmäßig gute Beispiele dafür liefert uns die Bundesregierung, bei nahezu jedem Thema. Jedes Vorhaben, jede Äußerung wird vom Koalitionspartner genüsslich zusammengetreten. Das Ringen nach einem Konsens ist einem Zusammenkehren und mühsamen Zusammensetzen der Scherben gewichen. Das ist ein Grund, warum die Beliebtheitswerte der Regierung immer weiter sinken. Sicher ist: Streit ist wichtig. Es muss nur richtig gestritten werden. Denn auch, wenn in den Augen vieler Menschen in der Politik zu viel gestritten wird, Demokratie lebt vom Streit und vom Konsens – ,kurzen Prozess’ gibt es nur in Diktaturen und autoritären Regimen.
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Streit und Konflikte gibt es fast überall dort, wo Menschen aufeinandertreffen: mit Familienangehörigen, Partnerinnen und Partnern, Freunden, Nachbarn, mit Arbeitskollegen, im Straßenverkehr oder beim Einkaufen. Schon Kinder streiten und handeln Spielregeln und Konflikte im freien Spiel aus. Streitereien und Meinungsverschiedenheiten gehören zu menschlichen Interaktionen und Beziehungen dazu. Damit ein Zank nicht in einen unüberbrückbaren Bruch mündet, gibt es Möglichkeiten, Konflikte durch konstruktives Verhalten zu lösen. Ein Streit ist zunächst nichts Schlimmes, ihm muss nicht aus dem Weg gegangen werden. Im Gegenteil.
In der Regel nur Gezänk
Richtiges Streiten ist möglich. Birte Karalus – ja, die, die in den 90ern in einer RTL-Talkshow regelmäßig auf inszeniertes Remmidemmi setzte – hat ein kluges Buch über das Streiten geschrieben. Die 58-Jährige arbeitet heute als ausgebildete Mediatorin, sie kennt sich mit der Materie also aus. In ihrem neuen Buch „Lasst uns streiten!“ prangert sie die deutsche Streitkultur an. Warum hat der Streit so ein mieses Image? „Weil wir so schlecht streiten“, ist sich Karalus sicher. „Wir haben nicht gelernt zu streiten. Es geht oft nicht darum, wer das bessere Argument hat; sondern darum, wer am lautesten ist. Die Ampel macht vor, wie es nicht geht, die haben noch nie richtig gestritten, es ist in der Regel nur Gezänk zwischen verschiedenen Gruppen.“
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Beispiele für schlechten Streit gebe es viele, so Karalus. Sie verweist auf den völlig eskalierenden Streit im Loriot-Sketch „Die Ente bleibt draußen…“, wo sich der Zwist um eine Gummiente zu einem handfesten Konflikt hochschaukelt. Positive Streitvorbilder hingegen fehlen. Aus Sicht der Mediatorin müsste richtig Streiten schon in der Schule oder im besten Fall zu Hause gelernt werden. Das sei keine Selbstverständlichkeit: „Der eine wächst mit dem Glaubenssatz auf ,Wer schreit, hat Unrecht, der andere hat als Kind gelernt, dass sich nur derjenige durchsetzt, der laut wird.’“ Doch „Streit ist ein wichtiges Werkzeug der Kommunikation“, so Karalus im Gespräch mit der Sonntagszeitung.
Streit ist zunächst nichts Negatives
Aber ist Streit denn überhaupt nötig? „Streit ist nichts Negatives. Streit bedeutet nicht gleich Feindschaft. Konstruktiver Streit kann uns sogar zusammenbringen. Konflikte direkt anzusprechen ist immer besser, als wenn der Konflikt vor sich hin schwelt“, so Karalus. Es müsse allerdings „ein gemeinsamer Wille da sein, einen Streit zu lösen. Dabei muss klar sein, auch der andere kann recht haben. Der Streit muss auf Augenhöhe geführt werden, und es muss versucht werden, einen Konsens zu finden. „Beiden sollte es danach besser gehen“, so die Mediatorin.
Um richtig zu streiten, seien allerdings feste Regeln zu beachten. Die häufigsten Fehler seien: der falsche Zeitpunkt, vor Publikum streiten, um das wirkliche Thema herumeiern und nicht zuletzt der Frontalangriff. Außerdem warnt Karalus: „Es muss klar sein, jeder interpretiert die Äußerungen des anderen für sich, da hilft es nachzufragen, ob man den anderen richtig verstanden hat.“ Nur dann gebe es eine Basis, auf der sich ein Streit lösen lasse.
Freundlichkeit ist Trumpf
Um konstruktiv zu streiten, rät Karalus ausgerechnet zu Freundlichkeit. „Wir müssen den anderen als Mitmenschen sehen, nicht als Gegner, den es zu besiegen gilt. Niemand sollte in einem Streit untergehen, beide müssen ihr Gesicht wahren können. Es ist hilfreich, sich selbst zu fragen, was kränkt mich, was den anderen.“ Dazu sei es ratsam, auf seine Wortwahl zu achten und dem Gegenüber mit Respekt zu begegnen. „Freundlichkeit ist entwaffnend“, hat die Moderatorin in vielen Streitschlichtungen festgestellt. Im Idealfall gleiche ein Streit eher einem Tanz als einem Kampf.
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Zunächst müsse die Bereitschaft aller streitenden Parteien da sein, Probleme offen anzusprechen. Viel zu oft liegt genau da das Problem. „Viele Alltagsgespräche gleichen einem Tanz ums rohe Ei“, so Karalus. Besonders, wenn es um brisante Themen wie Corona, Klima, Migration, Krieg, Gendern, Cancle-Culture oder Rechtspopulismus gehe. Viele Menschen halten lieber den Mund, statt sich die Finger mit einem brisanten Thema zu verbrennen. „Man sollte immer zwischen Sache und Person unterscheiden und statt nur schwarz-weiß auch Grautöne zulassen“, findet Karalus.
Mit Verschwörern ist schlecht reden
Es gebe allerdings auch Themenkomplexe, da wird konstruktiver Streit schwer. Verschwörungstheorien zum Beispiel. „Da wird es manchmal unmöglich, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Wenn es toxisch wird, einfach sein lassen“, rät Karalus. „Wenn wir uns nicht einmal mehr darauf einigen können, was wirklich und real ist, droht der Zerfall der Gesellschaft“, schreibt sie in ihrem Buch. „Mit Lügnern kann man nicht streiten (…). Wenn grundsätzliche Fakten und belegbare Tatsachen bestritten werden, versagen alle Argumente, und tragfähige Einigungen werden unmöglich.“
Der Glaube an geheime Mächte
Einen Beleg dafür liefert Karalus gleich mit: „Laut Befragung der Konrad-Adenauer-Stiftung von 2023 halten es 8 % der Deutschen für ,sicher’, weitere 32 % für ,wahrscheinlich richtig’, dass geheime Mächte die Welt steuern. Bedeutet: Fast jeder dritte Bundesbürger hat sich von der Realität mehr oder weniger verabschiedet.“ Wenn sich Menschen in eine Verschwörungsblase zurückziehen, gibt es aber kaum noch eine Grundlage für richtiges Streiten. Denn diese Menschen „nehmen bevorzugt Ereignisse wahr, die ihre Meinung bestätigen“, viele von ihnen könnten Unsicherheit einfach schlecht aushalten. Dieser Rückzug aus der Realität habe oft mit Überforderung zu tun – und mit Wut. Aber mit Wut lasse sich schwer streiten, weil hinter Wut oft Angst stecke.
Dazu zitiert Karalus den schwedischen Schriftsteller Hjalmar Söderberg (1869-1941): „Wir wollen alle geliebt werden. Werden wir nicht geliebt, wollen wir bewundert werden. Werden wir nicht bewundert, wollen wir gefürchtet werden. Werden wir nicht gefürchtet, wollen wir gehasst und missachtet werden. Wir wollen ein Gefühl in unseren Mitmenschen auslösen; ganz gleich, um welches es sich dabei handeln mag. Die Seele zittert vor der Leere und sucht den Kontakt um jeden Preis.“
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Wenn Wut die Regie übernimmt, bleibt das Argument auf der Strecke, und wenn man sich nicht mehr zuhört, wird konstruktiver Streit unmöglich. Diese Wut speist sich oft aus dem Gefühl, dass alles immer schlimmer werde. Menschen aus diesem Zustand permanenter Empörung zu lösen, sei schwer, schreibt Karalus.
Wer nicht für mich ist, ist gegen mich
Bei dieser Grüppchenbildung in Meinungsblasen wird nicht mehr miteinander geredet, nur übereinander. Es gilt das Credo: Wer meine Auffassung nicht teilt, gehört zum feindlichen Lager, wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Das Problem, so Karalus: wenn sich zu einem Thema eine Minderheit besonders lautstark äußert, wird sie als Mehrheitsmeinung angenommen. „Besonders Populisten, Spalter und Hetzer leben von der Aufmerksamkeit der Menge. Der Entzug von Aufmerksamkeit – auch durch die Medien – wäre ein erster Schritt zu einer besseren Streitkultur.“ Karalus rät: auch auf diese Menschen „mit Achtsamkeit zu reagieren, sich nicht provozieren lassen“. Eben mehr Freundlichkeit im Umgang. „Das bedeutet aber nicht, dass wir alles unwidersprochen stehen lassen sollten. Im Gegenteil, man sollte nur mit etwas mehr Offenheit und Freundlichkeit antworten.“ Und: „Es ist auch nicht verboten, seine Meinung einmal zu ändern oder zu revidieren. Meist rüstet auch die andere Seite ab, wenn man selbst in Vorleistung geht, das gilt im Kleinen am Abendbrottisch und im Großen im Bundestag.“
Der Hauptgrund für die Wut und Pöbelei in den sogenannten Sozialen Medien sei die Anonymität. Dort finde, meint Karalus, oft nur ein Meinungsschlagabtausch statt, weil man sein Gegenüber nicht kenne. Sie habe die Erfahrung gemacht: „Richtiger Streit ist in den Sozialen Medien kaum möglich“. Mit jemandem in der Masse zu streiten, sei verlorene Zeit. „Nur wenn man mit einem Einzelnen spricht, gibt es vielleicht eine Chance auf konstruktiven Meinungsaustausch. Im besten Fall bringe ein Streitgespräch dann neue Erkenntnisse für beide statt Sieg oder Niederlage“.
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Sicher ist, gestritten wurde schon immer. Nur sei heute, anders als vor 100 Jahren, „der Chor der Meinungen vielstimmiger geworden, und es mehren sich die schrillen, unversöhnlichen Töne.“ Unterschiedliche Lebensmodelle würden „mit Verbissenheit verteidigt, die an Glaubenskriege erinnert, wenn etwa Veganer auf Fleischesser, Genderfans auf Sprachwächter oder Klimaaktivisten auf Leugner des Klimawandels“ träfen, so Karalus. Und, nicht zuletzt durch die Themen Cancle Culture und Political Correctness, stünden „die Fettnäpfe inzwischen so dicht, dass viele Menschen sich den Slalom darum herum nicht mehr zumuten wollen oder erst gar nicht zutrauen. Auf der Strecke bleiben dabei gemeinsame Werte, auch die Grundwerte eines demokratischen Gemeinwesens, in dem Freiheit immer auch die Freiheit des Andersdenkenden ist.“
Nett kommt weiter
Es wird also nicht zu wenig gestritten bei uns – nein, eigentlich befindet sich unsere Gesellschaft sogar im Dauerstreit. Nur führt die Dauerempörung zu nichts, schon gar nicht zu konstruktiven Lösungen.
Mit etwas mehr Freundlichkeit, da ist sich Birte Karalus sicher, „vereint mit Offenheit und Zugewandtheit mit inhaltlicher Klarheit und gefestigten Werten“, können wir auch heute noch gepflegt und gewinnbringend streiten.
Birte Karalus: Lasst uns streiten!, Ariston Verlag, 208 Seiten, 22 Euro.
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