Essen. Heute so, morgen so und immer volle Kraft voraus: Die politische Debatte kennt nur noch Polarisierung und Extrempositionen. Wohin führt uns das?
Wird plötzlich sogar ihm alles zu viel? Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst gehört eigentlich zur Generation politischer Hochleistungsathleten, die diszipliniert die Wettkampfbedingungen ihres Gewerbes erspüren und annehmen. Für den heutigen Meinungskampf heißt das: Man muss klar, schnell und bildmächtig kommunizieren, um nicht missverstanden zu werden. Eigene Unsicherheit verwirrt „die Menschen“ nur, Eindeutigkeit ist gefragt. Die Botschaft muss sitzen, um kein Verhetzungspotenzial zu bieten.
Wüsts Amtsvorgänger in Düsseldorf, der frühere Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet, wurde mit dieser „Schwarz-Weiß-Republik“, die keine Grautöne mehr kennt, nie richtig warm. Sein rheinisch intoniertes Abwägen und Differenzieren wirkte aus der Zeit gefallen. Wüst dagegen ist smart und wendig und beherrscht die Kunst des „Großspielens“, um es in der Theatersprache zu sagen: Eindeutig sein, übertrieben ausladend in Bewegung und Mimik, damit es in der letzten Stuhlreihe richtig ankommt. Virtuos hat der Christdemokrat sich so das Label des modernen Konservativen mit Schwiegersohn-Charme erarbeitet.
Plötzlich jedoch scheint ausgerechnet ihm die Debattenkultur in Deutschland unheimlich zu werden. Nach den jüngsten Wahlerfolgen von AfD und dem neuen Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) in Ostdeutschland erlebte man erstmals einen nachdenklichen Hendrik Wüst bei der sorgenvollen Gesellschaftsanalyse.
Der Meinungsumschwung kommt: Heute so, morgen so
Er sehe die „tradierte Diskurslogik“ der westlichen Demokratien in Frage gestellt, sagte Wüst sogar öffentlich in einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Das eingeübte Wechselspiel von Regierung und Opposition funktioniere nicht mehr, fürchtet Wüst. Seine Diagnose: Der Dauerstreit über Grundsätzliches wie Corona, Energiewende, Ukraine-Waffenlieferungen, Liberalisierung der Lebensformen oder neuerdings wieder die Migrationspolitik wird inzwischen so unerbittlich geführt, dass er bei immer mehr Leuten in Staatsverachtung, Parteienverdrossenheit oder gar Systemkritik endet.
„Wir müssen herausfinden aus dieser Spirale, die sich durch die sozialen Medien immer schneller dreht und wo Kritik viel zu oft umschlägt in schrille, äußerst negative Beschreibungen unseres Landes“, fordert Wüst. Nur: Geht das überhaupt noch? Sind wir nicht längst Meister einer permanenten Schubumkehr? Heute so und morgen so, immer volle Kraft voraus, elektrisiert von Bekennergeist und Haltungslust?
Es gibt mittlerweile unzählige Beispiele dieser unheilvollen Dynamik. Als im September 2015 die ersten Züge mit Massen von Flüchtlingen aus Ungarn am Münchner Hauptbahnhof einfuhren, wurde applaudiert und mit Teddybären geworfen. Refugees Welcome! Heute ist „Willkommenskultur“ ein Schimpfwort und jeder Syrer eine potenzielle Terrorgefahr.
Kernkraft, Corona, Ukrainekrieg - die Meinung dreht sich
Im Februar erst ging das Land gegen „Remigrationspläne“ der AfD auf die Straße. Nach dem Attentat von Solingen vor vier Wochen wird die Grenze das Sagbaren spielend in die andere Richtung verschoben. Zurückweisungen. Abschiebehaft. Brot, Bett und Seife für Flüchtlinge. Sollen die europäischen Nachbarn doch sehen, wie sie mit denen klarkommen!
Oder: Als im März 2011 ein Tsunami im Pazifik ein japanisches Atomkraftwerk zur Kernschmelze brachte, spülte es in Baden-Württemberg einen AKW-freundlichen CDU-Ministerpräsidenten aus seinem Stammland. Heute wird der überhastete Atomausstieg Deutschlands als skandalöse Ursache für russische Gas-Abhängigkeit und standortfeindliche Strompreise verteufelt.
Oder: Als der Grünen-Politiker und Minister Robert Habeck im Bundestagswahlkampf 2021 vorsichtig über „Defensivwaffen“ für die Ukraine dozierte, fegte ein Sturm der Entrüstung über ihn hinweg. „Blauäugig“ sei er, „brandgefährlich“. Kein Jahr später konnte es vielen gar nicht schnell genug gehen mit schweren Panzern für Kiew. Wer vor drei, vier Jahren an die Nato-Beitragsverpflichtungen Deutschlands erinnerte, sah sich als Kriegstreiber gebrandmarkt. Heute will jeder gewusst haben, dass die Bundeswehr „systematisch heruntergewirtschaftet“ wurde.
Oder: In der Corona-Krise jagte die digitale Meute die NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) als „SärGebauer“ durchs Netz, weil sie Schulen möglichst lange im Normalbetrieb arbeiten lassen wollte – und das zugegebenermaßen nicht besonders glücklich erklärte. Heute ereifert sich fast jeder über psychosoziale und motorische Spätfolgen der Kinder durchs monatelange „Homeschooling“.
Der rasante Richtungswechsel wird zum regelmäßigen politischen Stunt
Der rasante Richtungswechsel wird zum regelmäßigen politischen Stunt, das Niedermachen und Besserwissen zum guten Ton. Endlos weit weg wirken die Zeiten, als Franz Josef Strauß noch „dem Volk aufs Maul schauen, aber nicht nach dem Mund“ reden wollte. Oder Gerhard Schröder „mit ruhiger Hand“ regierte. Oder als Helmut Kohl historische Weichenstellungen wie die Euro-Einführung gegen die D-Mark-Nostalgie der Deutschen durchsetzte, einfach weil er sie für richtig erachtete. Zwar haben auch vorherige Generationen über Großthemen wie Wiederbewaffnung, Ostpolitik, Nato-Doppelbeschluss oder Wiedervereinigung erbittert gestritten. Doch die Geschäftsbedingungen des politischen Diskurses haben sich fundamental verändert.
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Die Spirale der Erregungsdemokratie, die Wüst zurecht beklagt, wird rund um die Uhr auch von der Politik selbst in Gang gehalten. Aus Furcht vor dem nächsten Shitstorm und in Sorge um die Wiederwahl lassen sich Regierungen immer häufiger von Umfrageinstituten den Weg weisen. Doch Demoskopen können nur messen, was das Volk fühlt. Und das ist inzwischen meist das, was Menschen auf ihren Smartphones sehen und lesen.
Selbst die klassischen Medien können sich dem fatalen Trend nur schwer widersetzen
Wie die Algorithmen der großen Tech-Plattformen ihre Häppchen sortieren, weiß niemand genau, doch unbestritten ist: Beiträge voller Emotionen, Personalisierung und Absolutheit haben die größten Chancen, soziale Netzwerke zu fluten. Da rund um die Uhr Analogien zu vorhandenen Interessen, Meinungen und Neigungen berechnet werden, bekommt jeder immer mehr vom Gleichen auf den Bildschirm. So dröhnt es in den Echokammern der Gleichgesinnten, während die andere Weltsicht ihre Berechtigung verliert oder gleich gar nicht mehr vorkommt.
Selbst die klassischen Medien können sich dem fatalen Trend nur noch schwer widersetzen. Auf der Suche nach digitalen Lesern und Zuschauern starren viele Redaktionen auf Dashboards und Klick-Tabellen, um bloß keinen Google-Trend zu verpassen. „Traffic“ wird oftmals wichtiger als thematische Breite und journalistischer Anspruch. Nüchterne Ausgewogenheit trägt den Makel der Unverkäuflichkeit. Zuspitzung wird zum Muss der Aufmerksamkeitsökonomie. Selbst öffentlich-rechtliche Talkshows casten ihre Gäste so vorhersehbar, dass der echte Austausch von Argumenten weniger wichtig wird als die Zweitverwertung von Acht-Sekunden-Schnipseln im Netz.
Die Rolle der Künstlichen Intelligenz
Als Hendrik Wüst im Frühjahr auf einer USA-Reise das Silicon Valley besuchte, bekam er eine düstere Ahnung davon, wie sich die Debattenkultur nach dem vollständigen Siegeszug der Künstlichen Intelligenz entwickeln könnte. Handynutzer müssen sich dann gar nicht mehr aktiv und quellenkritisch um die Informationsbeschaffung kümmern. Sie werden frei Haus und personalisiert mit einem vergorenen Verschnitt aus Nachrichten, Meinung und Halbwahrheiten zugemüllt. Wohl dem, der dann im Sportverein, in der Nachbarschaft oder im Musikkurs noch echte Menschen trifft, die anders ticken als man selbst.
Das Führungspersonal der etablierten Parteien versucht derweil, der Unübersichtlichkeit durch Heilsversprechen Herr zu werden. Jeder will kantig rüberkommen, um überhaupt noch Gehör zu finden. „Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch“, tönt Kanzler Scholz. „Einfach mal machen“, fordert CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann. „Es reicht“, kündigt der Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz an. Das produziert neue Enttäuschungen, denn meist ist die Sachlage so komplex, dass man gar nicht „einfach mal machen“ kann.
Die Attraktivität von autoritären Parteien, Extremisten und populistischen Systemsprengern wächst
Zur Kakophonie tragen überdies geltungsbedürftige Hinterbänkler bei, die heute ein machtvolles Instrument in der Hosentasche haben: ihren Social Media-Account. So kann ein Anton Hofreiter von den Grünen verantwortungsfrei und bar jeder Tiefenkenntnis in der existenziellen Frage von Krieg und Frieden den eigenen Bundeskanzler als Hasenfuß schmähen und findet damit sein Publikum.
Bei vielen Bürgern verfestigt sich auf diese Weise der Eindruck eines täglichen Ausnahmezustands in der Politik. Fehler werden zu Skandalen, Probleme zu Krisen, strauchelnde Amtsträger zu nie dagewesenen Witzfiguren. Der Kompromiss verkümmert plötzlich zum Trostpreis der Unfähigen. Die Attraktivität von autoritären Parteien, Extremisten und populistischen Systemsprengern, die auszumisten versprechen, wächst bei diesem gefühlten Kontrollverlust immer weiter. Längst nicht nur in Deutschland.
In den USA hat die Polarisierung und Diskursunfähigkeit bereits einen traurigen Tiefpunkt erreicht. Mittwoch vergangener Woche, 11. September, beste Sendezeit, ABC News, die einzige TV-Debatte Trump gegen Harris. Der Präsidentschaftskandidat der Republikaner, Vertreter der stolzen „Grand Old Party“ eines Abraham Lincoln, faselt von Einwanderern aus Haiti, die Haustiere stehlen und aufessen.
Die halbe Nation lacht darüber. Die andere Hälfte glaubt es.
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