Essen. Der Ruhestand unseres Autors steht demnächst an. Doch was anfangen mit der restlichen Lebenszeit? Warum es sich lohnt, einen Plan zu haben.
Ich gehe in Rente. Das habe ich vor kurzem entschieden. Nicht gleich morgen, aber in ein paar Monaten ist es soweit. Dann werde ich 65 sein und eigentlich müsste ich bis zum gesetzlichen Renteneintritt noch gut ein Jahr weitermachen. Aber ich dachte mir, der 65. Geburtstag sei, nach mehr als 40 Jahren als Beitragszahler, ein gutes Datum für den Abschied aus dem Job. Die paar Prozent Abschläge bei der künftigen Rentenüberweisung nehme ich in Kauf. Dann lieber die Jahre, die mir noch bleiben, zusammen mit meiner Frau genießen. Ein Grund zur Freude, also?
Rente. Das klingt für mich so richtig alt. Egal ob mit 65 oder ein, zwei Jahre später – wirklich sexy ist die Aussicht auf den „Ruhestand“ nicht. Denn was ist jetzt noch zu erwarten, außer dass Blutdruck, Cholesterinwerte, Gewicht und Krebsrisiko weiter steigen? „Wer Glück hat, darf nach der Rente noch ein paar Jahre im Gartenstuhl vor sich hin jammern“, schreibt der Wissenschaftsjournalist Thomas Schulz. „So war es immer, so wird es auch für immer bleiben.“ Doch dann schiebt er gleich die Entwarnung hinterher. „Falsch.“
„Altern ist formbar. Es kann beeinflusst, beschleunigt, gebremst werden.“
Denn Schulz’ gerade erschienenes Buch mit dem Titel „Projekt Lebensverlängerung“ zielt in genau die andere Richtung. Fast zwei Jahre, so der Autor, habe er bei Spitzenforschern, Medizinern, Ernährungsexperten und Vordenkern der Künstlichen Intelligenz (KI) recherchiert. Er kommt zu dem Schluss, dass die „datengetriebene Wissensrevolution“ in ihrer Bedeutung „fast nirgends größer ist als in der Medizin“. Schulz folgert: „Altern ist formbar. Es kann beeinflusst, beschleunigt, gebremst werden. Vielleicht auch gestoppt, für eine Weile zumindest.“ Jedenfalls müsse für die meisten von uns nicht unausweichlich mit Mitte 80 Schluss sein, und das Leben mit 90 müsse sich auch nicht „miserabel anfühlen“. Selbst „gesunde 100“ seien erreichbar.
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So ist es denn sicher kein Fehler, einen Plan zu haben für den sogenannten Lebensabend; zumal sicher „Sonnenuntergang“ , siehe oben, immer mehr nach hinter zu verschieben scheint, jedenfalls die Aussicht darauf. Man könnte reisen, sich ein Wohnmobil zulegen. Oder sich endlich um den Garten kümmern – wollte man nicht schon immer mal das eigene Gemüse ernten könnten? Womöglich ist man längst verplant von den eigenen berufstätigen Kindern, als babysitternde Großeltern. Andere wiederum engagieren sich im gesellschaftlich-sozialen Bereich, helfen bei der örtlichen Tafel oder unterstützen Flüchtlinge bei Behördengängen und Sprachkursen.. Alles kann, nichts muss.
So gesehen, eröffnen sich für uns angehende Rentner völlig neue Perspektiven. Aber ist Langlebigkeit, oder „Longevity“ wie es im Englischen heißt, wirklich eine Verheißung – oder nur der zum Scheitern verurteilte Versuch, die Natur auszutricksen?
Die Lebenserwartung ist immer mehr gestiegen
Die Fakten: Insgesamt haben die Deutschen seit Bismarcks Zeiten über 40 Lebensjahre dazugewonnen. In den Jahren 1871/1881 betrug die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt für Männer 35,6 Jahre und für Frauen 38,5 Jahre. Bis in den 1960er-Jahre war es vor allem der Rückgang bei der Säuglings- und Kindersterblichkeit, der das Durchschnittsalter stark ansteigen ließ. Im Jahr 2023 lag das durchschnittliche zu erwartende Alter für Frauen bei 83,3 Jahren, Männer kommen auf 78,6 Jahre.
Allerdings stehen die Deutschen im europäischen Vergleich nicht so gut da: Nach einer im Mai veröffentlichten Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung und des Max-Planck-Instituts liegt die Lebenserwartung der Bundesbürger niedriger als in vielen anderen westeuropäischen Staaten – und die Kluft wird größer. Die Forschenden haben die Sterblichkeitstrends in 15 westeuropäischen Ländern über mehrere Jahrzehnte untersucht. Ergebnis: 2022 lag die Lebenserwartung bei der Geburt in Deutschland 1,7 Jahre unter dem westeuropäischen Durchschnitt. 2000 betrug der Rückstand noch 0,7 Jahre.
Mit Hightech gegen das Altern
Buchautor Schulz macht deutlich, dass es bei den Bemühungen der Forscher nicht um Verlängerung der Lebenszeit um jeden Preis gehe, „sondern es geht um vitale Lebensjahrzehnte im hohen Alter, um fitte 100“. Ausgerüstet mit Künstlicher Intelligenz und Supercomputern sei es Forschern in den letzten Jahren gelungen, wesentliche Grundlagen des menschlichen Alterungsprozesses zu entschlüsseln. Schulz spricht von „Hightech gegen das Altern“ und nimmt in seinem Buch die Leser mit auf eine Reise durch die Welt der modernen Labors und Universitäten, wo an Verfahren zur Lebensverlängerung geforscht wird. So etwa in der US-Elite-Uni Harvard, wo Wissenschaftler über den biologischen Grundlagen des Alterns tüfteln.
Ihr Ansatz: Alter ist eine Krankheit. Alle führenden Todesursachen, ob Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs oder Alzheimer, seien am Ende Alterserscheinungen. Wenn Altern aber eine Krankheit ist, dann könnten Wissenschaftler Medikamente entwickeln, um sie zu behandeln, und Ärzte können ihren Patienten Medikamente verschreiben. Der Genetik-Professor David Sinclair in Harvard ist überzeugt: „Altern ist behandelbar.“ Und er sagt: „Es gibt kein biologisches Gesetz, dass wir altern müssen.“
Krebs ist die große Hürde im Kampf gegen das Altern
Wer über die neue „Longevity“ spricht, muss über Krebs sprechen. In Deutschland etwa ist Krebs nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen die zweithäufigste Todesursache. 2022 starben mehr als 230.000 Menschen hierzulande an Krebs. Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind oft auf Lebensumstände zurückzuführen: Rauchen, Übergewicht , Diabetes Bluthochdruck. „Auslöser, auf die der einzelne Mensch oft Einfluss nehmen kann“, so Autor Schulz,. „Krebs dagegen scheint schicksalhafter, unkontrollierbarer, brutaler.“ Auch deshalb sei Krebs „die größte Hürde des Projekts Lebensverlängerung“.
Schulz beschreibt wie etwa das Wissenschaftler-Paar Ugur Sahin und Özlem Türeci – also die beiden Gründer des Biontech-Konzerns, der durch die Entwicklung des Corona-Impfstoffs weltbekannt wurde – daran arbeitet, „Krebs nicht nur für kurze Zeit, sondern langfristig zu kontrollieren oder idealerweise zu heilen“. Das Ziel der beiden Wissenschaftler beschreibt Schulz so: „Personalisierte Medizin für jeden, basierend auf individuellen Krebsmerkmalen.“
Beim Kampf gegen Demenz gibt es Bewegung
Sahin und Türeci sind voller Hoffnung, dass schon in der kommenden Dekade gelingen könnte, immer mehr Krebsarten zu kontrollieren. Schulz schließt sich dieser „optimistischen Vision“ an: „Vor allem für die jetzt geborenen Generationen wird der Risikofaktor Krebs eine deutlich schrumpfende Rolle für die Lebenserwartung spielen.“
Doch was ist, wenn die Forscher zwar im Kampf gegen körperliche Leiden und Krankheiten immer mehr an Boden gewinnen – aber der Kopf nicht mehr mitmacht? Leiden wie Alzheimer und Demenz, die vielen Menschen große Angst machen, treten immer häufiger auf. Waren 2021 rund 1,8 Millionen Menschen in Deutschland an Demenz erkrankt, im Jahr 2040 dürften es laut Prognosen schon 2,4 Millionen sein. Die ganz große Mehrheit der Betroffenen ist älter als 65. „Was ist gewonnen, wenn wir den Krebs in den Griff bekommen und das Herz in Schwung halten, nur damit am Ende das Gedächtnis versagt?“ Auch hier sieht Schulz Fortschritte: „Es bewegt sich etwas, endlich.“ Beispielsweise durch komplett neue wissenschaftliche Ansätze bei der Anwendung der Immuntherapie.
Wie wir altern, liegt in unserer eigenen Hand
Liegt es also wirklich allein in den Händen von Medizinern und Forschern, von Künstlicher Intelligenz und Hightech, wie alt wir künftig werden? Nein. Laut Schulz ist ein zweiter Ansatz mindestens genauso wichtig: „der eigene Lebenswandel“. Gesundes Essen, viel Bewegung, genügend Schlaf, Stresskontrolle – solche Faktoren wirken nicht nur positiv auf die Gesundheit, sondern beeinflussen auch den Alterungsprozess.
Auch bei Demenz gebe es „beeinflussbare Risikofaktoren“, beispielsweise hoher Blutdruck, Übergewicht, Diabetes und Stress, aber auch Bildungsarmut und mangelnder sozialer Kontakt. Kurz: „Alle Lebensgewohnheiten, die gut für die allgemeine Gesundheit, insbesondere aber für das Herz-Kreislauf-System sind, helfen dem Gehirn.“ Und der Autor Schulz bilanziert: „In erster Linie liegt ein langes, gesundes Altern in unserer eigenen Hand. Es geht dabei nicht um ein paar Monate mehr, sondern um Jahrzehnte.“
Was mache ich denn nun mit meinem Ruhestand?
Und nun? Was bedeutet das nun für mich, mit knapp 65, als angehender Rentner? Die von Schulz aufgezeigten, teils bahnbrechenden Fortschritte in Medizin und Forschung – für mich werden sie zu spät kommen, wenn sie denn wirklich kommen. So bleibt mir bestenfalls mein Lebenswandel als Hebel: gesünder essen, mehr bewegen, Neues wagen. Ich könnte wieder mit dem Tennis anfangen, oder das Fahrrad in der Garage wieder flottmachen, die Currywurst mal weglassen. Und da liegt auch der Stapel Bücher, die ich unbedingt lesen will. Meine Frau will mit mir nächstes Frühjahr nach Irland verreisen. Ein irisches Sprichwort lautet: „Obwohl sie nicht einmal hundert Jahre alt werden, bereiten sich die Menschen Sorgen für tausend Jahre.“
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