Hattingen. Birke Müller ist Stressmedizinerin. Die Hattinger Ärztin verrät, wann Stress krank macht, was die Ernährung damit zu tun hat – und was hilft. Sofort.
Für Dr. Birke Müller sind die Säbelzahntiger nicht wirklich ausgestorben – „Handys sind auch kleine Säbelzahntiger“, erklärt die Hattinger Ärztin. Seit Juli leitet sie (kommissarisch) die Klinik für Naturheilkunde in der Klinik Blankenstein, die zum Katholischen Klinikum Bochum gehört. Ihr besonderes Augenmerk gilt der Stressmedizin. Denn Stress, sagt die 45-Jährige, führt zu oft zu ernsten Erkrankungen. Im Gespräch erklärt sie, wann Stress krank macht und was dagegen hilft.
Frau Dr. Müller, warum machen Hochzeitsvorbereitungen immer Stress, aber selten krank – Langzeitarbeitslosigkeit dagegen schon?
Birke Müller: Stress ist eine normale Reaktion des Körpers. Hochzeitsvorbereitungen sind positiver Stress, sie bewirken positive Emotionen, das Paar freut sich auf den Tag und mit dem gibt es auch eine Deadline für den Stress – selbst wenn er vorher zu schlaflosen Nächten und Streit führt. Wer lange arbeitslos ist, dessen Körper muss mit einer ganz anderen Situation umgehen, mit negativem Stress. Er fühlt sich womöglich hilflos, ausgegrenzt, hat Zukunftsängste, bekommt Druck von außen – und eine Deadline fehlt. Seine Stresshormone sinken also gar nicht mehr ab. Das macht krank.
Das heißt, nicht nur Über-, sondern auch Unterforderung können Stresssymptome verursachen?
Ja, beides kann krank machen. Es gibt einen Burnout und einen Boreout – auch Langeweile kann Stress verursachen, etwa wenn jemand aus einem arbeitsreichen Berufsleben in die Rente kommt.
Wie entsteht Stress—und wann schadet er Körper oder Seele?
Ich fange mal früh an, in der Steinzeit. Da empfanden die Menschen Stress, wenn sie angegriffen wurden, von anderen Gruppen oder von Tieren. Ihre Körper brauchten in solchen Situationen Energie, um kämpfen oder fliehen, das Problem lösen zu können. Danach durften sie sich wieder erholen. Heute ist Entspannung kaum noch möglich: Wir haben Stress auf der Arbeit, in der Freizeit, im Ehrenamt, wir müssen Freundschaften oder die Eltern pflegen, meinen alle Nachrichten lesen zu müssen. Heute gibt es keine Säbelzahntiger mehr, aber Internet, E-Mails und Handys. Immer wenn sie klingeln, ist das ein Stressmoment, ein kleiner Säbelzahntiger-Angriff.
Die Naturheilkundeklinik in Blankenstein
Dr. Birke Müller ist Fachärztin für Allgemeinmedizin mit der Zusatzbezeichnung Naturheilverfahren und zudem zertifizierte Stressmedizinerin. Seit neun Jahren arbeitet die gebürtige Dortmunderin, die in Schwerte aufwuchs und in Bochum sowie in Straßburg studierte, an der Naturheilkundeklinik in Blankenstein, die Teil des Katholischen Klinikums Bochum ist; am 1. Juli trat sie (kommissarisch) die Nachfolge des früheren Direktors Prof. André-Michael Beer an. „Hier bin ich richtig“, findet sie.
Die Hattinger Klinik bietet zweiwöchige, stationäre „naturheilkundliche Komplexbehandlungen“ für Kassen- und Privatpatienten an, für Selbstzahler und Privatpatienten ist Müller zudem in ihrer Praxis für Naturheilkunde vor Ort. Die Klinik hat 50 Betten, jährlich werden rund 1100 Patienten und Patientinnen behandelt. Für jeden wird ein individuelles Anwendungsprogramm zusammengestellt, basierend auf den fünf Bereichen der Naturheilverfahren: Wasser-/Wärme-, Heilpflanzen-, Ernährungs-, Bewegungs- und Ordnungstherapie. „Alle unsere Patienten sind chronisch krank“, erklärt Müller, für akute Probleme sei die Schulmedizin der richtige Ansprechpartner, man verstehe sich nicht als Alternative, sondern als „Ergänzung“ dazu. „Niemand muss hier die Medikamente absetzen, die ihm ein niedergelassener Arzt verordnet hat“, versichert die Medizinerin, die lange selbst in einer Hausarztpraxis gearbeitet hat.
Von Rheuma über Fibromyalgie bis hin zu chronischer Bronchitis und neurologischen Erkrankungen reichen die Beschwerden, mit denen die Patientinnen – nur zehn Prozent sind männlich – kommen. Im Schnitt sind sie zwischen 50 und 70 Jahre alt. „Und fast alle, würde ich sagen, sind gestresst“, sagt Müller – einen eigenen „ICD-Code“ für diese Erkrankung gebe es aber (noch) nicht. Brauche es aber auch nicht, „wir behandeln immer den ganzen Menschen“.
Was genau passiert im Körper, wenn wir Stress haben?
Blutdruck und Puls steigen, die Atmung beschleunigt sich, die Verdauung stoppt, es wird Zucker bereitgestellt, damit die Muskeln besser arbeiten können. Um die Anspannung halten zu können, schüttet der Körper ein paar Stunden später das Hormon Cortisol aus. Lässt der Stress nach, übernimmt der Nervus vagus – der ist zuständig für die Entspannung.
Vor 50 Jahren konnten die wenigsten etwas mit dem Begriff Burnout anfangen, heute leiden immer mehr Menschen darunter. Sind die Menschen empfindlicher oder aufmerksamer oder leben wir einfach in stressigeren Zeiten als früher?
Wir leben auf jeden Fall in stressigeren Zeiten, denke ich. Die Arbeitsdichte hat enorm zugenommen und es wird erwartet, dass wir ständig erreichbar sind. Früher gab es drei Schwarz-Weiß-Programme im Fernsehen, heute neben einem Vielfachen an TV-Sendern ungezählte Streaming-Dienste. Früher lieferte die Tagesschau uns einmal am Abend die Nachrichten, heute poppen permanent neue Schlagzeilen auf. Im Supermarkt berieselt uns Radio – und Fernsehen. Alles kleine Säbelzahntiger. Früher war die Aufgabenverteilung in den Familien zudem klarer. Die Frau versorgte die Kinder, der Mann schaffte das Geld ran. Das will ich sicher nicht wieder, jeder sollte so leben, wie er möchte. Aber wenn beide Eltern Vollzeit arbeiten, bleibt oft kaum noch Zeit für eine Stunde auf der Couch.
Was sind typische Stresssymptome?
Schlafstörungen stehen oft am Anfang. Auch Muskelverspannungen, Kopfschmerzen, Blutdruckanstieg, erhöhte Zuckerwerte und Gewichtszunahme.
Und was sind die langfristigen Folgen?
Wenn man es laufen lässt? Diabetes, Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen – und das führt häufig zu Schlaganfall und Herzinfarkt. Chronisch schlechter Schlaf verursacht Erschöpfung, Depressionen. Sogar Demenz, eine relativ neue Erkenntnis.
„Immer wenn Handys klingeln, ist das ein Stressmoment, ein kleiner Säbelzahntiger-Angriff.“
Was hilft kurzfristig gegen Stress, was auf Dauer?
Kurzfristig: Atmen. Langsam bis drei zählen und einatmen und bis sechs ausatmen Auf Dauer helfen Selbstfürsorge, Nein-Sagen, Abgrenzen, Probleme ansprechen, Aufgaben abgeben. Allerdings ist das richtige Stress-Management so unterschiedlich wie Stressfaktoren individuell sind. Grundsätzlich neigen wir dazu, zu weit nach vorne zu denken. Es ist besser, im Hier und Jetzt zu bleiben, eine Sache nach der anderen zu Ende zu bringen, sich dazwischen Ruhezeiten zu können.
Hilft Sport?
Enorm. Und das muss kein Marathon sein, auch ein flotter Spaziergang oder eine Runde Schwimmen, jede Form von Bewegung tut es. Ganz wichtig ist zudem: eine gesunde Ernährung. Wir sind, was wir essen. Jede Körperzelle ist aus dem gebaut, was wir zu uns nehmen. Und möchten Sie aus Pommes-Currywurst bestehen?
Kann man Stress vorbeugen?
Wer es früh lernt, geht mit den Widrigkeiten des Lebens besser um. Wer weiß, wie er am besten entspannt und das regelmäßig übt, kann immer darauf zurückgreifen. Und damit meine ich nicht nur Meditation, autogenes Training oder die anderen klassischen Entspannungstechniken. Das kann auch Handarbeit oder Musik sein.
Was sagen Sie der alleinerziehenden, berufstätigen Mutter mit drei lebhaften Kindern und einem schwerkranken Vater? Selbst wenn die mal zur Mutter-Kind-Kur darf: Danach steht sie wieder vor ihrem anstrengenden Alltag…
Es gibt Lebenssituationen, da hilft es nur, sich Hilfe zu suchen, bei Verwandten, Nachbarn, in der Kita.
Einen Facharzt „Stressmedizin“ gibt es nicht. Sollte es?
Es wäre gut, wenn alle Ärzte Kenntnisse von den Zusammenhängen zwischen körperlichen Symptomen und Stress hätten. Allein eine neue Spezialisierung wird uns nicht weiterbringen. In meinem Medizinstudium wurde über das Thema aber gar nicht gesprochen. Der Hausarzt ist in jedem Falle der richtige Ansprechpartner und naturheilkundliche Maßnahmen sind ein guter ganzheitlicher Ansatz zur Stressreduktion.
Sie haben Zwillinge, zwei Jungs von 15, und gerade eine neue Führungsposition übernommen. Aber Stress kennen Sie persönlich gar nicht?
(lacht) Doch natürlich hab auch ich Stress. Aber ich schlafe täglich sieben Stunden, ich esse regelmäßig, ich komme mit dem Rad zu Arbeit und am Wochenende gehe ich joggen oder schwimmen. Termine versuche ich so zu legen, dass nicht einer am anderen hängt. Und wenn das einmal alles nicht hilft, kann ich ja: atmen.