Essen. Heute warten Patienten Wochen auf einen Termin. Ärzte schicken Angehörige. Das war beim Start der Essener „Hungerklinik“ 1999 noch ganz anders.

Schön haben sie es hier. Warme Farben, helle, hohe Räume, große Fenster mit Blick ins Grün. Schon die WAZ bewunderte beim Erstbesuch 1999 das Ambiente – und stellte zudem fest: „Von Hokuspokus mit Pflanzen keine Spur“. Im Juni feiert die Essener Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin 25. Geburtstag. Viel hat sich getan, seit 1999 auf dem Deimelsberg in Steele die ersten Patienten begrüßt wurden.

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60 Standorte bewarben sich 1999 als Naturheilkunde-Modlellkliniken

Man erzählt sich, dass es die Frauen der (späteren) Bundespräsidenten Carstens und Rau waren, die sich für die Naturheilkunde in NRW starkmachten, dass sie ihre Männer drängten, endlich auch hier Kliniken zu errichten. „Aber das ist natürlich nur ein Narrativ“, sagt Dr. Anna Paul, heute Chefin der Ordnungstherapie, der „Kunst der gesunden Lebensführung“. Die Zeit sei einfach reif gewesen. In Bayern habe die Naturheilkunde damals schon „zur Kultur gehört“, NRW sei aber noch Entwicklungsland gewesen. „Mit der Naturverbundenheit ist es in Industrieregionen nicht so weit her“, erinnert sie sich. Doch die Politik habe es gewollt und die Krankenkassen ebenfalls. 60 Standorte bewarben sich als Modellkliniken, darunter das Knappschaftskrankenhaus in Essen-Steele, das heute zu den Evangelischen Kliniken Essen-Mitte (KEM) gehört. Die Klinik Blankenstein in Hattingen und Essen erhielten einen Zuschlag.

Die Klinik Blankenstein

Im Ruhrgebiet gibt es heute neben der Essener noch immer nur eine weitere Naturheilkundeklinik, in der Patienten auch stationär versorgt werden: die Klinik Blankenstein in Hattingen (Direktor: Prof. André-Michael Beer). Sie gehört zu den Katholischen Kliniken Bochum. 1300 Patienten werden dort jährlich behandelt. Als „Modellabteilung“ des Landes NRW wurde die Blankensteiner Klinik 1997 noch vor der in Essen eröffnet. 25. Geburtstag feierte man in Hattingen schon vor zwei Jahren – im Heilkräutergarten.

Fünf Jahre nur wollte Paul im Ruhrgebiet bleiben. Ihre Freunde hatten auch dafür kein Verständnis. „Wie kann jemand aus dem schönen München nur ins schäbige Ruhrgebiet ziehen?“, hieß es. Und Dr. Thomas Rampp, der heute das Institut für Naturheilkunde, Traditionelle Chinesische Medizin und Indische Medizin leitet, fragten die Kollegen: Was ihn, „einen ausgebildeten Internisten, einen richtigen Arzt“ dazu bringe, sich auf ein solches Experiment einzulassen. Nun, die beiden Mediziner der ersten Stunde sind noch immer in Essen – und ihren Schritt haben sie nie bereut, versichern sie unisono.

„Wir wollen der Schulmedizin keine Konkurrenz machen“

Gustav Dobos, international anerkannter Pionier auf dem Gebiet der evidenzbasierten (wissenschaftlich geprüften) Naturheilkunde und der Integrativen Medizin, wurde als Chef des Hauses gewonnen. Er blieb es 22 Jahre lang. Und stellte als erstes klar, erzählen seine damaligen Mitarbeiter: Wir werden das hier wissenschaftlich angehen, unser Vorbild sind amerikanische Leuchtturmkliniken wie Harvard und Stanford. Und er betonte: Wir wollen der Schulmedizin keine Konkurrenz machen, die Naturheilkunde nicht statt, sondern ergänzend anbieten, mit ihr zusammenarbeiten zum Wohle der Patienten.

Erst schickten sie uns nur ihre Problempatienten; irgendwann auch Standardpatienten; und noch etwas später: ihre Angehörigen.
Dr. Marc Werner - Direktor der Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin in Essen

Und doch war der Anfang nicht leicht (obwohl die naturheilkundliche Klinik Blankenstein schon zwei Jahre vor der Essener eröffnet hatte). „Allein die Begrifflichkeiten!“, erinnert sich Rampp. „Es dauerte Jahre, bis wir da Struktur drin hatten. Von Auspendeln bis Teebeutel-Weitwurf traute man uns alles zu.“ Kurzum: Die niedergelassenen Ärzte vor Ort gaben sich zunächst sehr zurückhaltend, was Überweisungen anging; unsicher, was ihre Patienten in der Naturheilkunde wohl erwartete, in dieser „Hungerklinik“, wo sie den Kranken angeblich sogar Fasten verordneten.

25 Jahre Naturheilkunde. Besuch am evangelischen Krankenhaus KEM am Donnerstag den 16. Mai 2024 in Essen Steele. Foto:Ralf Rottmann/ Funke Foto Services
25 Jahre Naturheilkunde. Besuch am evangelischen Krankenhaus KEM am Donnerstag den 16. Mai 2024 in Essen Steele. Foto:Ralf Rottmann/ Funke Foto Services © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Tatsächlich gehörte am Deimelsberg damals wie heute das Fasten zum Programm – genau wie Akupunktur, Pflanzenheilkunde, Wasser-, Bewegungs- oder Ordnungstherapie (Mind Body Medicine)“. Wenig später kamen auch die Traditionelle Chinesische und die Indische Medizin dazu, 2001 spendierte man den Naturheilkundlern dafür sogar einen Neubau. „Der eigentlich der Urologie zustand, wie deren Chefarzt tobend erklärte“, erinnert sich Rampp. Man startete mit zwölf Betten, 25 Mitarbeitenden und 16 Patienten. „Wir haben uns um jeden einzelnen gerissen“, erzählt Paul lachend.

Gustav Dobos: Inhaber des ersten Lehrstuhls für Naturheilkunde

Heute werden in der Essener Naturheilkundeklinik jährlich 1000 Patienten und Patientinnen ambulant und weitete 1000 stationär behandelt. Die Mitarbeiterzahl wuchs auf 100 und die der Betten auf 50, eine kleine Tagesklinik kam hinzu. Die Wartezeit auf einen Termin beträgt inzwischen acht Wochen.

„Es hat geholfen“, sagt Marc Werner, der seit 2009 an den KEM arbeitet und Dobos 2021 als Klinikdirektor ablöste, „dass wir unser Tun hier von Anfang an durch die Uni Duisburg/Essen haben evaluieren lassen. Und dass Dobos 2004 den allerersten Lehrstuhl für Naturheilkunde in Deutschland übernahm, wir seit 2005 auch Lehrkrankenhaus sind.“ Das schaffte Akzeptanz bei den niedergelassenen Schulmedizinern vor Ort. Die, erinnert er sich, „schickten uns erst nur ihre Problempatienten; irgendwann auch Standardpatienten; und noch etwas später: ihre Angehörigen. Jetzt kommen sie selbst.“

Doch noch immer freut sich der Internist, Notfallmediziner und Naturheilkundler mit zahlreichen Zusatzqualifkationen, wenn ihn ein Kollege anruft: „Ich komm‘ da nicht weiter, könnt Ihr helfen?“ Er nimmt es als „Kompliment“ und als Beleg dafür, dass die Botschaft angekommen ist: „Zusammen sind wir besser!“

Helle, hohe Räume in warmen Farben: Die WAZ lobte schon beim ersten Besuch das Ambiente sowie den Ausblick – und befand überrascht: Keine Spur von Hokuspokus mit Pflanzen in dieser neuen Naturheilkundeklinik.
Helle, hohe Räume in warmen Farben: Die WAZ lobte schon beim ersten Besuch das Ambiente sowie den Ausblick – und befand überrascht: Keine Spur von Hokuspokus mit Pflanzen in dieser neuen Naturheilkundeklinik. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

„Von unerfülltem Kinderwunsch bis Tinnitus“ wird ambulant behandelt. Stationär kommen die meisten Patienten mit Schmerzen, Migräne, Rheuma oder Arthrose, seit Corona auch mit Post-Covid. Selbst Krebspatientinnen der KEM werden naturheilkundlich mitbehandelt, wenn sie es möchten, vor einem Jahr eröffnete man dazu die Klinik für Integrative Onkologie.

Muss man daran glauben, dass Naturheilkunde wirkt?

Muss man daran glauben, dass Naturheilkunde wirkt, damit sie wirkt? „Nein, natürlich nicht“, sagt Thomas Rampp empört. „Dass es funktioniert, ist ja durch Studien bewiesen.“ „Einspruch aus der Ordnungstherapie“, sagt Anna Paul. „Wir haben hier zwar schon viele vom Saulus zum Paulus werden sehen. Aber wir setzen nur den Impuls, der Patient muss mitwirken wollen.“ „Unsere Therapien helfen unabhängig vom Glauben“, vermittelt der Chef, „der Patient darf nur nicht blocken!“

Die letzten 25 Jahre seien „so spannend“ gewesen, sagt Anna Paul, für die die Integrative Medizin die Medizin der Zukunft ist. Sie sei so froh, „dass hier etwas entstanden ist, was den Menschen gut tut“. „Hokuspokus mit Pflanzen“, verrät Thomas Rampp beim Abschied, habe im Übrigen von Anfang an sehr wohl zum Konzept gehört. Sie nennen es hier nur: Phytotherapie.