Essen. In NRW müssen Heimbewohner besonders viel aus eigener Tasche fürs Pflegeheim zahlen. Ein Wohnprojekt zeigt, wie es anders gehen kann.
- In keinem Bundesland steigen die Kosten für das Pflegeheim so massiv an wie in NRW. Das geht aus neusten Zahlen des Verbands der Ersatzkassen hervor.
- Demnach zahlen Heimbewohnerinnen und Heimbewohner im Monat 3200 Euro fürs Heim dazu. Berücksichtigt man Rabatte des Bundes, sind es nach drei Jahren Aufenthalt immer noch 2226 Euro.
- In Baden-Württemberg wird ein Wohngruppen-Modell getestet, das die Kosten senkt und die Teilhabe der Bewohnerinnen und Bewohner stärker in den Mittelpunkt rückt: Die sogenannte Stambulanz macht auch im Ruhrgebiet hellhörig.
Die Frau kam zum Sterben. Kaspar Pfister erinnert sich noch gut an die ältere Dame, die nach einer schweren Erkrankung mit palliativer Diagnose in seine Senioreneinrichtung gekommen ist. Der letzte Wunsch: Sie wolle noch einmal auf dem Clavinova spielen. Pfister ließ das digitale Piano ins Zimmer wuchten, und die Dame spielte bei offener Tür. Bewohner, Angehörige und Pflegekräfte animierten die Seniorin zu immer neuer Musik. „Sie war angespornt und schöpfte Energie. Am Ende lebte sie fünf Jahre bei uns und machte viel Musik“, sagt Pfister.
Sicher ist das ein ungewöhnlicher Fall, von dem der Chef der familiengeführten „Benevit Gruppe“ da berichtet. Und doch sind es Erzählungen wie diese, die seine Art der Senioreneinrichtung dieser Tage in NRW in den Fokus rücken. Seit acht Jahren erprobt Pfister in einem Haus mit vier Wohngemeinschaften und 56 Plätzen in Baden-Württemberg, wie Pflege in Zeiten von Arbeitskräftemangel, leeren Kassen und immer mehr Pflegebedürftigen funktionieren kann. Seine Antwort ist eine deutschlandweit einmalige Wohngruppe, in der stationäre und ambulante Pflege vermischt wird und die auch im Ruhrgebiet Anhänger findet: die sogenannte Stambulanz.
Rund 1,2 Millionen Pflegebedürftige leben in NRW - die meisten zu Hause
„Der Handlungsbedarf in der Pflege ist akut“, mahnt Stefanie Siebelhoff, Direktorin des Caritasverbands im Ruhrbistum, mit Blick auf das Milliardenloch in der Pflegekassen und die Tatsache, dass pflegende Angehörige und professionelle Pflegekräfte stark belastet sind. Hierzulande leben rund 1,2 Millionen Pflegebedürftige, der Personalmangel treibt Heime in die roten Zahlen, ambulante Dienste sind ausgebucht. „Wir brauchen mutige Ansätze und begrüßen innovative Ideen wie die stambulante Versorgung.“ Siebelhoff hat unlängst Fachleute aus dem ganzen Ruhrgebiet eingeladen, um die Chancen der Stambulanz in der Region auszutarieren.
Seit Jahren klagen Fachleute darüber, dass die 1995 mit der Pflegeversicherung eingeführten sehr strengen Grenzen zwischen stationärer und ambulanter Pflege abgeschafft gehören. Zu viel Bürokratie, zu strenge Regeln, zu wenig Flexibilität, so die Meinung. In der Stambulanz von Kaspar Pfister gibt es eine 24-stündige Versorgung wie im Heim, pflegerische Leistungen werden aber wie beim ambulanten Dienst je nach Bedarf gebucht und stehen auch anderen im Haus offen, die nicht in der WG betreut werden.
Bewohnerinnen und Bewohner sparen bis zu 1000 Euro am Eigenanteil
Kern des Wohngruppenkonzepts ist Teilhabe: Bewohner können mit den Beschäftigten kochen, Angehörige waschen oder reinigen das Zimmer und sparen so bis zu 1000 Euro beim monatlichen Eigenanteil, dessen immense Höhe in NRW immer mehr Senioren in die Sozialhilfe treibt. Familien könnten so zur Pflege beitragen und sorgenfreier ihrem Beruf nachgehen, meint Pfister. Bewohner täten etwas Sinnvolles und würden fitter - Mitarbeiter erlebten Erfolge: „30 Prozent unserer Bewohner werden im Pflegegrad zurückgestuft.“ Das senkt Kosten der Pflegeversicherung. „Stambulanz ist nicht die Lösung aller Probleme in der Pflege, aber ein Schritt.“
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) will stambulante Angebote in einer angekündigten Reform der Pflegeversicherung regulär aufnehmen. Konkrete Details sind noch nicht bekannt, aber damit wäre so eine neue Wohnform auch in NRW überall möglich. Pfister selbst betont, das stambulante Konzept sei keine Pflegereform, sondern eine Weiterentwicklung der stationären Hausgemeinschaft mit „deutlichen Verbesserungen“ für alle Beteiligten.
„30 Prozent unserer Bewohner werden im Pflegegrad zurückgestuft.“
Der renommierte Pflegeforscher Heinz Rothgang warnt grundsätzlich davor, noch eine dritte „Säule“ in der Pflege einzuziehen. Das hemme Innovationen, die die Pflege dringend brauche, noch mehr. Ihm geht das Konzept zudem nicht weit genug: Bewohnende und Angehörige in hauswirtschaftliche Arbeit einzubinden, das könne nur ein erster Schritt sein, sagt Rothgang. „Alles, was nicht Fachpflege ist, sollten andere tun dürfen. Wir müssen Zivilgesellschaft, jüngere Rentnerinnen und Rentner und Angehörige stärker einbinden.“ Dann könnten sich Pflegekräfte auf das konzentrieren, was ihre eigentliche Arbeit ist.
Rothgang hält auch das nur für einen Zwischenschritt: Damit Pflege flexibler und damit besser für die Betroffenen werden kann, müssten die Grenzen zwischen ambulant und stationär abgeschafft werden. „Zu einer sektorfreien Versorgung wird es im Herbst leider nicht mehr kommen, so eine grundlegende Reform braucht zwei Legislaturperioden.“ Er erwartet nur kleinere Anpassungen, insbesondere eine Beitragssatzsteigerung zum Jahresende, weil die Kassen leer sind.
Pflege im Ruhrgebiet geht umgekehrten Weg: Rein in den Stadtteil
Beim katholischen Gesundheitskonzern „Contilia“, zu dem 14 sogenannte Seniorenquartiere in Essen, Mülheim und Umgebung gehören, geht man den umgekehrten Weg: Dort entstehen dieser Tage mehr Angebote für Menschen, die nicht ins Heim gehen wollen oder können - weil die Heime voll oder zu teuer sind. „Die Pflegelandschaft muss sich verändern“, sagt Sprecherin Katja Grün mit Blick darauf, dass mehr als 80 Prozent der 1,2 Millionen Pflegebedürftigen in NRW zu Hause leben. „Stambulanz ist sicher ein kreativer Weg. Perspektivisch werden Menschen mit niedrigerem Pflegegrad aber nicht mehr in ein Heim ziehen. Für sie brauchen wir auch Angebote.“
Zahnärzte und Hausärztinnen sollen in die Contilia-Quartiere kommen und dort leicht zu erreichende Sprechstunden auch für Menschen außerhalb der stationären Heime anbieten können. Sogar als Postfiliale könne man sich ein Heim vorstellen. Kurz vor der Umsetzung befindet sich eine App, über die helfende Hände für Gartenarbeit oder Einkauf an Senioren vermittelt werden soll.
NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann sieht solche Ansätze auf dem richtigen Weg. „Wir brauchen eine erheblichere Stabilität der häuslichen Pflege. Wenn wir diesen Teil verlieren, soll mir mal einer sagen, wie ich das auffangen soll“, sagte der Christdemokrat beim Caritasverband im Ruhrbistum.
Ein Teil der Lösung aus Sicht des Ministers: Familien sollten souveräner darüber entscheiden können, wofür sie Geld der Pflegekasse ausgeben. In Richtung Berlin mahnte Laumann, die dringend nötige Reform der Pflegeversicherung nicht übers Knie zu brechen. „Statt an einzelnen Stellschrauben zu drehen, haben wir 30 Jahre nach der Einführung der Pflegeversicherung das Recht, sie grundsätzlich zu reformieren.“
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