Essen. Nachdem der Rechtsradikalismus in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, muss die Mehrheit konsequent, aber in Ruhe reagieren.

Wer hätte das vor, sagen wir mal, zehn Jahren gedacht, dass eine Partei wie die AfD in einer Stadt wie Gelsenkirchen bei einer Wahl einmal vor der SPD landen und fast die stärkste Kraft werden könnte? Die deutschen Ergebnisse der Europawahl sind vor dem Hintergrund der Umfragen im Vorfeld nicht überraschend, und doch könnten sie bei dem einen oder anderen Demokraten Panik auslösen. Mehr Konsequenz im Umgang mit dem Rechtsextremismus wäre nun gut. Bei der Ausschöpfung der rechtsstaatlichen Mittel einer wehrhaften Demokratie (Stichwort: Parteiverbotsverfahren) ist noch viel Luft nach oben. Gleichzeitig gilt es aber auch, einen kühlen Kopf zu bewahren. Die Vorgänge der vergangenen Wochen lassen da leider nicht viel Gutes erwarten.

Rassistische Parolen auf Sylt

Da grölen ein paar Wohlstandsverwahrloste auf Sylt rassistische Parolen zu einem per se harmlosen, mehr als zwei Jahrzehnte alten Liebeslied, und natürlich ist es in besonderer Weise verstörend, wenn sich diese perfide Kombination aus Menschenverachtung und missbrauchter Popkultur nicht in den Gossen der Republik austobt, sondern von einer vermeintlichen Elite in luxuriösem Umfeld zelebriert wird. Um es klar zu sagen: Ich habe null Mitleid mit diesen Leuten, wenn sie nun nach der Veröffentlichung des entsprechenden Videos gesellschaftlich geächtet werden. Was mich aber sofort irritiert hat, war der Nachrichtenwert, den etablierte Medien diesem Ereignis zugemessen haben. Musste der Vorgang in einer „Tagesschau“ wirklich auf eine Ebene gehoben werden mit dem Krieg in der Ukraine oder in Gaza oder mit wichtigen bundespolitischen Themen?

Ausschnitt aus dem Sylter Skandalvideo: Nach der Szene wurde in manchen Kreisen sogar darüber diskutiert, ob man sich jetzt noch einen Pullover über die Schulter hängen darf.
Ausschnitt aus dem Sylter Skandalvideo: Nach der Szene wurde in manchen Kreisen sogar darüber diskutiert, ob man sich jetzt noch einen Pullover über die Schulter hängen darf. © Screenshot X (ehemals Twitter) | Screenshot X (ehemals Twitter)

Die Folge dieser Überhöhung waren die üblichen Reflexe einer Erregungsrepublik. Auf dem kommenden Oktoberfest in München etwa darf „L‘amour toujours“ nun nicht gespielt werden. „Es ist“, so formulierte es meine „Spiegel“-Kollegin Samira El Ouassil in ihrer Kolumne treffend, „als würden die Neuen Rechten auf einer Party am Buffet einmal alle Fischbrötchen ablecken, sodass man sie eklig findet – und wir in Reaktion darauf den Fisch verbieten.“

Haben wir, um es im Klartext zu sagen, eigentlich noch alle Platten im Musikregal, uns von rechtsextremen Hassern einen so tollen Partysong, ein Lied über die Liebe, wegnehmen zu lassen? Verstehen wir nicht, dass wir so das Geschäft der Reaktionären im Ergebnis fortführen und vollenden?

Gegenreaktionen in Essen und Oberhausen

Zum Glück erkennen immer mehr Menschen, wie unsinnig das ist, und wehren sich gegen eine endgültige Umdeutung dieses Kulturguts. Zum Beispiel der Hamburger DJ, Komponist und Produzent Alex Christensen: Er hatte am Samstag zur großen Eurodance- und Techno-Party in die Essener Grugahalle eingeladen. Der 57-Jährige spielte unter anderem auch seine Version von „L‘amour toujours“. „Es ist ein Liebeslied, und es bleibt ein Liebeslied“, betonte Christensen. Man spiele den Song seit vielen Jahren und werde das auch weiter tun. Das Publikum nahm es mit Applaus zur Kenntnis und feierte den Song ausgiebig. Ähnliches passierte fast zeitgleich „nebenan“ im Centro Oberhausen. Auch hier ließ man beim Festival „90er-live“ bewusst den Song von Gigi D‘Agostino erklingen.

Ja, eine phlegmatische Gelassenheit ist angesichts der Bedrohungen für unsere Demokratie fehl am Platz, nicht aber so etwas wie ruhige Entschlossenheit und Augenmaß. Dazu gehört auch, keinesfalls die Probleme zu übersehen oder schönzureden, die zu den politischen Erfolgen der AfD führen. Wenn Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen verhindern will, dass die AfD in seiner Stadt einen Bundesparteitag veranstaltet, dann tut er das, weil Essen für Weltoffenheit und Toleranz steht und der übergroße Teil der Bürgerinnen und Bürger diese Werte liebt und lebt.

Maß und Mitte wahren

Das heißt aber nicht, dass der Christdemokrat vergessen hat, was auch auf der politischen Agenda in Essen steht: nicht hinzunehmen, dass es bei Fußballspielen zu Massenschlägereien kommt, weil es einen Streit im Clan-Milieu gibt; nicht hinzunehmen, dass Jugendliche mit arabischen Wurzeln zu Silvester „wilde Sau“ spielen; nicht hinzunehmen, dass ausgerechnet auf dem Jakob-Funke-Platz, einem Ort, der symbolisch vor allem für die Meinungs- und Pressefreiheit steht, Islamisten für Unterdrückungssysteme wie das Kalifat demonstrieren.

Wenn in Mannheim ein aus Afghanistan Geflohener einen Polizeibeamten mit einem Messer tötet, dann ist es richtig, über Messerverbote und ihre Durchsetzbarkeit zu diskutieren, ruhig und entschlossen und mit Augenmaß. Wenn der Bundeskanzler anschließend jedoch so tut, als könne man einen Mörder und Terroristen einfach nach Afghanistan abschieben, dann ist das ein populistischer Schnellschuss, der den Radikalen in unserem Land mehr hilft als schadet, weil die Enttäuschung des Publikums auf dem Fuße folgen wird. Was der Kanzler nämlich nicht sagt, ist, dass eine solche Abschiebung praktisch nur dann geht, wenn man gegen die Genfer Flüchtlingskonvention und gegen die europäische Menschenrechtskonvention verstößt, wonach niemand in ein Land abgeschoben werden darf, in dem ihm Folter oder Verfolgung drohen.

Trauer und Entsetzen an dem Ort, an dem der Polizist in Mannheim durch ein Attentat tödlich verletzt wurde.
Trauer und Entsetzen an dem Ort, an dem der Polizist in Mannheim durch ein Attentat tödlich verletzt wurde. © IMAGO/Daniel Kubirski | IMAGO/Daniel Kubirski

Schon vergessen, dass in Afghanistan die Taliban regieren, Herr Bundeskanzler? Oder wollen wir diskutieren, ob ein solcher migrantischer Straftäter nicht nur sein Gast-, sondern auch sein Lebensrecht verwirkt hat, sobald der Abschiebe-Flieger aus Deutschland den Flughafen in Kabul wieder Richtung Heimat verlässt?

Die Würde des Menschen

Ich weiß nicht, ob das noch meine Bundesrepublik wäre, auf die ich so stolz bin. Vielleicht wäre das ja ein Deutschland, in dem Antidemokraten regieren, die auf unsere Grundwerte pfeifen und unsere verfassungsmäßige Ordnung Stück für Stück sabotieren. Hatten wir uns alle nicht gerade dafür gefeiert, dass die Würde des Menschen seit 75 Jahren, verfassungsrechtlich garantiert, unantastbar ist?

Setzen wir einem menschenverachtenden Nationalismus doch bitte weiter unseren Verfassungspatriotismus entgegen. Konsequent und ruhig. Jetzt, nach dem Wahlsonntag, erst recht.

Auf bald.

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