Ruhrgebiet. Die „Gang 46“ macht Oberhausen unsicher, in Gelsenkirchen ziehen Jugendliche Gleichaltrige ab. Wie die Polizei sie stoppen will.
Sie nennen sich selbst die „Gang 46“, das klingt cool und nach weiter Welt. Dabei ist ihre Welt bloß Oberhausen, wo die Postleitzahl mit 46 anfängt, dort vor allem die Innenstadt und in ihr eigentlich nur eine kleine Straße. Doch das Problem ist groß: Eine Jugendbande, die Jüngsten noch Kinder, treibt sich seit Monaten in Oberhausen herum, klaut, spuckt, macht Geschäftsleuten Angst, sogar das Wort „terrorisieren“ wird gebraucht. Politik und Polizei suchen nach Mitteln, die Jugendlichen zu stoppen, auch in anderen Städten.
„Wehrlos“ fühlen sich die Inhaber kleiner Läden an der Langemarckstraße. Im März wurde bekannt: Sie schließen ihre Geschäfte von innen ab, lassen nur Kunden ein, die seriös aussehen. Geklaut hatten die Kids, gepöbelt und gespuckt, wenn jemand versuchte, sie aufzuhalten. Später posteten sie bei Instagram Fotos von Waffen, die sie allerdings nicht hatten. Die Polizei ermittelt gegen konkrete Verdächtige, wirft ihnen auch Körperverletzung vor. Einige der Kinder seien noch im Grundschulalter, weiß man inzwischen, die Ältesten in der Gruppe gerade volljährig. Rumänen seien sie, Serben oder auch Deutsche.
Haupttäter einer Gruppe in Ahaus ist erst elf Jahre alt
Das passt zur Kriminalstatistik für Oberhausen. Danach waren im Jahr 2023 von insgesamt 8109 Tatverdächtigen 1904 noch nicht einmal 21 Jahre alt, im rechtlichen Sinne also Heranwachsende. Das ist ein Anteil von 23,5 Prozent. Rund ein Drittel hatte nicht die deutsche Staatsangehörigkeit. Den Begriff der kriminellen „Bande“ indes mag die Polizei nicht benutzen. Es gebe keine Hinweise auf eine feste oder clanmäßig organisierte Gruppe, man habe es eher mit wechselnden Konstellationen zu tun.
Das Phänomen ist nicht neu, ein Ermittler erinnert etwa an die „Klau-Kids“: Gewisse „Hochphasen“ der Jugendkriminalität habe es auch schon vor Corona gegeben. Und es trägt nicht nur die Oberhausener Postleitzahl. Auch Bottrop oder Gelsenkirchen kennen das Problem jugendlicher Straftäter, die in Gruppen auftreten. Im westfälischen Ahaus kämpft die Polizei gegen 20 Mitglieder einer kriminellen „Gang“. Der „Haupttäter“ ist dort erst elf Jahre alt. Auffällig ist hier wie dort: Auch die Opfer werden immer jünger. Nicht nur in Gelsenkirchen rauben Jugendliche Jugendliche aus, ziehen sie ab, bedrohen sie. „Das muss aufhören“, sagt der neue Polizeipräsident, „und wir wollen, dass es aufhört.“
Unser Schwerpunkt zur Jugendkriminalität
- Intensivtäter: „Mein Kopf war so kaputt von diesem Gras“
- Kriminelle Jugendbanden: Kommen die Klau-Kids zurück?
- Wie verhindert man, dass Kinder kriminell werden? Drei Ideen
Warum werden Jugendliche kriminell?
Die Ursachen für eine steigende Kriminalität von Minderjährigen liegen laut Michael Mertens, NRW-Chef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), trotz des hohen Migrantenanteils „nicht in der kulturellen oder nationalen Herkunft, sondern im sozialen Umfeld“. Mertens ist überzeugt: „Wer selbst findet, abgehängt zu sein, keine Perspektiven sieht, glaubt, dass er am Wohlstand nicht teilhat, dem ist das Strafgesetzbuch egal. Der verschafft sich das anders.“ Solche Jugendlichen glaubten, sie hätten nichts zu verlieren, „dabei ist das Gegenteil der Fall“.
Einer seiner Kollegen aus dem Ruhrgebiet hat als Ermittler jeden Tag mit kriminellen Jugendlichen zu tun, hält gelegentliche Fehltritte aber auch für einen „Teil der Persönlichkeitsentwicklung: Wir müssen uns davon freimachen zu sagen, dass Kriminalität etwas Unnatürliches sei.“ Dass Straftaten aber brutaler und rücksichtsloser werden, begründet der Polizist mit dem Einfluss Sozialer Medien. In der Gesellschaft gelte heute „mehr Schein als Sein“. Nicht nur bei jungen Menschen beobachte er, dass die Fähigkeit abnehme, Konflikte zu ertragen oder Nachteile auszuhalten. Auch die Hemmschwelle sei gesunken. „Das fängt ganz früh an“, sagt der Kripomann und führt das auch auf Elternhäuser zurück sowie fehlenden guten Einfluss.
Die SPD in Oberhausen mahnt: Gerade die Innenstadt sei das Zuhause von vielen Jugendlichen aus extrem armutsgeprägten Familien. Wer sich aber schwach fühlt in der Gesellschaft, hält sich in der Gruppe, wie in einer Schicksalsgemeinschaft, für stärker.
Was kann man tun?
„Die Polizei kommt oft erst, wenn es zu spät ist“, das weiß sie selbst (und in diesem Fall ihre Gewerkschaft). „Die Straße gehört nicht den Kriminellen und den pöbelnden Jugendlichen – egal, ob mit oder ohne Migrationshintergrund“, tönt die Politik (hier die CDU Oberhausen). Einig sind sie sich darin: „Das Phänomen bekommt man nur mit Prävention in den Griff“, sagt der GdP-Vorsitzende Mertens. Diese könne aber nicht allein Sache der Polizei sein, sondern müsse aus der Breite der Gesellschaft kommen. Überall dort, wo junge Menschen zusammenkommen: in der Schule, in den Vereinen, in den Horten, müsse man ihnen immer wieder sagen: „Dieser Weg ist verkehrt, er ist eine Sackgasse, aus der man oft nicht mehr herauskommt.“
- Mehr Straftaten der Jugendlichen: Polizei warnt die Familien
- Bande terrorisiert Einkaufsstraße: „Man fühlt sich wehrlos“
- Jugendkriminalität Oberhausen: Geschwister in der „Gang 46“
- Gelsenkirchen: Eltern haben Angst um Sicherheit ihrer Kinder
- Jugendbande in Oberhausen: So reagiert die Polizei jetzt
- Gelsenkirchen: Das weiß die Polizei über die Teenager-Räuber
In Oberhausen und auch Gelsenkirchen versuchen sie das: Stadt und Polizei haben sich zu Krisensitzungen getroffen, verstärkte Streifen auf die Straße geschickt, mobile Wachen verschoben, bei Eltern Gefährder-Ansprachen gehalten. In Gelsenkirchen wurde eine Sonderkommission (Soko) Jugend neu eingerichtet, Oberhausen setzt auf das „Haus des Jugendrechts“, in dem Stadt, Staatsanwaltschaft und Polizei zusammenarbeiten, um auf jugendliche und heranwachsende Intensivtäter schnell zu reagieren. „Ich bin überzeugt davon“, sagt Polizeipräsidentin Sylke Sackermann, „dass wir viele gute Projekte und Werkzeuge haben, um die Kinder und Jugendlichen abzuholen und ihnen gute Alternativen zu einer kriminellen Karriere zu bieten.“
Polizist: Wünschte, dass wir Kindern jede Form von Messern abnehmen dürften
Der anonyme Ermittler aus dem Revier wünscht sich eine offenere Debatte über die Gesetzeslage – und bessere Handhabe. Etwa sei es wünschenswert, wenn die Polizei „Kindern und Jugendlichen jede Form von Messer abnehmen dürften“. Das geht bislang nur, wenn eine konkrete Gefahr droht. Auch den Eltern nachzuweisen, dass sie womöglich ihren Erziehungsauftrag nicht wahrnehmen, sei für die Polizei nicht möglich. Der Polizist sieht hier ein gesamtgesellschaftliches Problem, „das nicht kurzfristig zu lösen sein dürfte“: den Fachkräftemangel, der auch Erzieher und Lehrkräfte betrifft.
Gewerkschafter Mertens setzt auf die direkte Ansprache der Jugendlichen selbst: „Wir müssen denen, die glauben, sie haben keine Chance, sagen, dass sie sehr wohl eine haben.“ Ihnen deutlich machen: „Ihr werdet gebraucht! Aber ihr müsst auch zeigen, dass ihr wollt.“