Essen. Wir müssen TikTok als Stadtteil betrachten, schlägt der Essener Präventionsexperte Thomas Rüth vor – Straßensozialarbeit inklusive.

Die Jugendkriminalität in NRW hat nach der Pandemie einen rapiden Anstieg erlebt. Nach Jahren des Rückgangs erreichte sie 2023 ein Zehnjahreshoch. Vor 2014 lag die Zahl der jungen Tatverdächtigen allerdings durchgehend höher als zuletzt, um die Jahrtausendwende sogar um ein Drittel.

Fast ein Drittel der Tatverdächtigen unter 21 Jahren sind ohne deutschen Pass. Auffallend im Zehnjahresvergleich ist der extreme Anstieg bei den nichtdeutschen Kindern, die zu Tatverdächtigen geworden sind (plus 184 Prozent. Bei den nichtdeutschen Jugendlichen gibt es ebenfalls einen deutlichen Anstieg (plus 39 Prozent), allerdings ist die Altersgruppe in zehn Jahren noch etwas stärker gewachsen. Bei den nichtdeutschen Heranwachsenden (18 bis unter 21 Jahre) gab es einen leichten Rückgang.

Unser Schwerpunkt zur Jugendkriminalität

Wie kann man verhindern, dass Jugendliche in die Kriminalität abrutschen? Thomas Rüth erklärt drei Ideen, wie die Sozialarbeit sich dafür aufstellen muss. Er ist Chef der ambulanten Jugendhilfe, der Kriminalprävention und der Quartierentwicklung bei der CSE (Caritas und SkF) in Essen.

Schnelle Reaktion

„Prävention funktioniert nicht ohne Sanktionen“, sagt Rüth. „Wir brauchen einen funktionierenden Rechtsstaat“ – und die Jugendlichen müssten ihn auch so wahrnehmen. Soll heißen: Zwischen Straftat und Strafe soll nicht mehr so viel Zeit verstreichen.

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Dies ist nur einer der Aspekte, auf den zum Beispiel das „Bündnis zur Kriminalprävention“ im Essener Nordviertel abzielt. Sozialarbeiter, Polizei, Ordnungsamt, Jugendamt und Quartiersmanagement der Uni besprechen sich regelmäßig und halten Kontakt mit allen anderen Beteiligten: von der Kita bis zum Jugendrichter. Manchmal macht es Sinn, Fälle zu priorisieren. Ein anderes Mal ist vielleicht der Hausbesuch ein geeignetes Mittel. „Viele Eltern wissen nicht, was ihre Kinder da treiben.“

Die Gruppe

„Es gibt viele Risikofaktoren, aber nur ein kleiner Teil ist kulturell bedingt“, sagt Rüth. Dazu gehörten mangelnde Sprachkenntnisse und empfundene Perspektivlosigkeit der Eltern sowie ein männerdominiertes Rollenverständnis. „Aber all das findet sich auch in deutschen Familien.“ Diskriminierungserfahrungen spielten eine große Rolle, sagt Rüth, sei es in der Schule oder bei der Wohnungs- und Arbeitssuche. Eltern vererben allzu oft das Gefühl von Perspektivlosigkeit. „Moderne Islamisten-Influencer arbeiten genau damit“, sagt Rüth. „Die Erfahrung unzureichender Selbstwirksamkeit führt auch zu Selbstethnisierung und selbstgewählter Ausgrenzung.“

Wenn stabile Beziehungen, Vorbilder, Erfolgserlebnisse fehlen, dann gewinnt die Clique an Bedeutung. „Und Kriminalität wird in der Gruppe gelernt“, sagt Rüth. Umgekehrt heißt das: Man müsse den Kindern und Jugendlichen alternative Rollenbilder anbieten. Zum Beispiel die Sozialarbeiterin, die überzeugend die Erkenntnis vermitteln kann: Das Patriarchat unterdrückt auch die männlichen Jugendlichen. Oder einen libanesisch-stämmigen Konfliktmanager. Eine solche Stelle befindet sich gerade in der Pilotphase und wird von der Deichmannstiftung gefördert. 

Auch ein Taschengeldprojekt hat sich als erfolgreich herausgestellt: Jugendliche, die Gefahr liefen, von Dealern angeworben zu werden, wurden dafür entlohnt, dass sie ihr Viertel sauber hielten. Für einige war es das erste legal selbst verdiente Geld – und damit ein Erfolgserlebnis.

Der Stadtteil

„Kriminelle Karrieren entwickeln sich im Stadtteil“, sagt Rüth. Darum sind für ihn die Quartiershausmeister ein wichtiges Instrument. „Die Stadtteile, die wirklich kippen, sind die, wo die Nachbarn sagen: Mich interessiert das nicht mehr.“ Umgekehrt seien „funktionierende Nachbarschaften die besten Instrumente der Kriminalprävention“.

Wie schafft man es nun, die Nachbarn zu interessieren? „Es gibt bereits viele Menschen, die uns Hinweise geben“, sagt Thomas Rüth. „Nachbarn, die sich beschweren, werden von uns besucht. Wenn das nicht ausreicht, geben wir die Vorgänge an das Ordnungsamt oder die Polizei weiter. Damit spüren die Nachbarn, dass sie nicht alleine sind – und das aktiviert weiteres Engagement.“

Dass sich mancherorts das Interesse für das Lebensumfeld abkühlt, sieht Rüth aber auch als Ausdruck eines gesellschaftlichen Auseinanderlebens: „Schauen Sie sich die wütenden Diskussionen auf Facebook an.“ Andererseits: „Wir müssen einen neuen Stadtteil entdecken: TikTok & Co. Das ist auch ein Lebensfeld von Jugendlichen. Wir brauchen Straßensozialarbeit im Internet.“

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