Essen. Der Kanzler und der mögliche Kanzler in spe: Wer ist besser? Welche Regierung ist erfolgreicher? Die in Berlin oder die in Düsseldorf?

Kann es sein, dass die Ampelkoalition in Berlin gar nicht so schlecht ist wie ihr Ruf – und dass umgekehrt die schwarz-grüne Koalition in Düsseldorf gar nicht so gut ist, wie es manchmal scheint? Während uns der schweigende Scholz angesichts der nicht enden wollenden Kabalen zwischen FDP und Grünen doch immer wieder mächtig auf den Keks geht, empfinden wir die Geräuschlosigkeit rund um unseren Wohlfühl-Wüst geradezu wunderbar. Die Folge ist, dass der NRW-Ministerpräsident mit seinem landesväterlich-präsidialen Kinderfeste-Eröffnen und Orden-Verleihen zu den beliebtesten Politikern Deutschlands gehört, während der Bundeskanzler im öffentlichen Ansehen sinkt und sinkt. Da hilft auch die piratenhaft-kecke Augenbinde nicht, die er gerade tragen muss.

Schauen wir aber zunächst, weil es nahe liegt, nach Düsseldorf. Oder besser noch: nach Gladbeck. Dort wird es nach heftigen Protesten nun doch keine Zentrale Unterbringungseinrichtung (ZUE) für Geflüchtete geben. 620 Plätze in einem Gladbecker Hotel waren vorgesehen. Es gab deswegen heftigen Streit zwischen der Stadtspitze, der Bezirks- und der Landesregierung, bis das Land endlich einlenkte. Jetzt wollen Stadt und Land gemeinsam nach alternativen, kleineren Unterkünften suchen.

Wüst lässt seine Minister allein

Warum nicht gleich so? Fast nirgendwo in den Kommunen wollen die Bürgerinnen und Bürger eine derart geballte Unterbringung von Flüchtlingen. Mülheim-Raadt ist ein weiteres Beispiel, über das wir oft berichtet haben. Vor zwei Wochen erst warfen die Oppositionsfraktionen im NRW-Landtag Flüchtlingsministerin Josefine Paul Versagen vor. Sie habe kein Konzept, keinen Plan; sie reiche die Flüchtlinge, die das Land selbst nicht unterbringen könne, rücksichtslos an die Kommunen weiter. Die Grünen-Politikerin hielt dagegen. Wüst aber schwieg. Über den Wolken schwebend lässt er seine Ministerinnen und Minister im Zweifel allein.

Dabei ist die Liste der schwarz-grünen Pannen und Versäumnisse lang. Unvergessen ist etwa die Download-Panne beim Zentralabitur, als Klausuren verschoben werden mussten. Den Kopf dafür hinhalten durfte: Schulministerin Dorothee Feller von der CDU. Allein mit ihrem Namen verbunden ist inzwischen auch der notorische Lehrermangel und das üble Abschneiden Nordrhein-Westfalens beim bundesweiten Bildungsmonitor.

Wüst pflanzt den nächsten Baum

Auch wenn sich Eltern zurecht darüber aufregen, dass sie für ihre Kinder keinen Platz für den Offenen Ganztag an der Grundschule finden, ist die Schuldfrage geklärt. Dabei würde ich so gerne mal von Hendrik Wüst erfahren, wie er sich als Regierungschef die vielbeschworene Vereinbarkeit von Familie und Beruf vorstellt und wie der Fachkräftemangel bekämpft werden kann, wenn wir qualifizierte Frauen – denn meistens sind es die Frauen – dazu verdonnern, ihre Kinder zu betreuen statt einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Doch Hendrik Wüst pflanzt schon den nächsten Baum, schüttelt Hände und blinzelt dabei fotogen in die Sonne.

Ist die Bilanz nach mehr als einem Jahr Schwarz-Grün in NRW denn wenigstens auf dem Feld der Innenpolitik besser? Nicht wirklich. Hier ist es der Innenminister, der im Regen steht. Im Februar war es der ebenso erfahrene wie loyale CDU-Mann Herbert Reul, der einen ungewöhnlich deutlichen Anstieg der Kriminalität in NRW einräumen musste. Ob allein eine verbesserte Polizeiarbeit verantwortlich für die unerfreuliche Statistik ist, darf indes bezweifelt werden. Im Ruhrgebiet mit seinen kriminellen Clans fühlt sich die innere Sicherheit ohnehin noch einmal ganz anders an.Was genau hat die Landesregierung hier bislang erreicht, von den in ihrer Wirkung zum Teil lächerlichen Nadelstichen einmal abgesehen?

Immerhin lässt sich als Erfolg verbuchen, dass in NRW der 1000-Meter-Windräder-Abstand zu Wohnhäusern gekippt wurde – ein Erfolg, der freilich auf das Konto der Grünen geht, nicht so sehr auf das der Wüst-CDU, die hier eine alte Position aufgeben musste. 1000 zusätzliche Windkraftanlagen sollen in NRW bis 2027 entstehen. Der Weg ist noch weit, aber immerhin: Die Weichen sind gestellt, und dafür wurde und wird die Landesregierung denn auch gefeiert.

Olaf Scholz im Vergleich

Wofür eigentlich werden Olaf Scholz und seine Ampelkoalition gefeiert?

Ja, ich weiß, allein die Frage löst bei einigen Leserinnen und Lesern schon heftigste allergische Reaktionen aus. Ich stelle sie trotzdem. Das jetzt gerade vom Bundestag beschlossene Heizungsgesetz ist ja zum Synonym für das – angebliche – Totalversagen der Bundesregierung geworden. Und ich will das Gehampel, die Zankereien, das Sandkastenverhalten der vergangenen Monate auch nicht schönreden. Aber ich finde, wir sollten fair bleiben.

Erstens: Eine solche lagerübergreifende Dreier-Koalition hat es noch nie gegeben. Derart unterschiedliche Partner unter einen Hut zu bekommen, ist eine Herausforderung an sich. Zweitens: Die Ampel hat ihre Arbeit mitten im zweiten Corona-Winter begonnen und am Vorabend eines Angriffskrieges in Europa, der alles verändert hat. Viel schwieriger konnten die Rahmenbedingungen nicht sein. Trotzdem konnte eine gefährliche Gasmangellage abgewendet werden. Drittens: In Sachen Klimapolitik haben die Vorgängerregierungen auf ganzer Linie versagt. Nun muss in kurzer Zeit aufgeholt werden, was über Jahre und Jahrzehnte sträflich vernachlässigt worden ist.

Historische Reformen der Ampel

Und viertens: Es gibt greifbare, ja historische Reformen dieser Regierung, die im allgemeinen Geschimpfe untergegangen sind. Zwei Beispiele: Deutschland hat dank der Ampelkoalition ein modernes Einwanderungsrecht. Und das vom Kabinett beschlossene Selbstbestimmungsgesetz erlaubt es queeren Menschen endlich, ihren Geschlechtseintrag im Personenstandsregister und ihre Vornamen einfacher ändern zu lassen. Das steht einer liberalen Gesellschaft, in der „Diversität“ nicht nur in Sonntagsreden beschworen wird, gut zu Gesicht.

Ob ein Hendrik Wüst in einer Koalition aus CDU/CSU und Grünen im Bund nicht doch den besseren Bundeskanzler abgeben würde, weiß ich nicht. Ich weiß nur eines: Wer sich enttäuscht von Demokraten ab- und Antidemokraten zuwendet, weil manches oder sogar vieles nicht gelingt, ganz gleich ob in Berlin, Düsseldorf oder anderswo, der hat nichts gelernt. Wer kein Nazi ist, wählt keine Nazis. Und wer als sogenannter „kleiner Mann“ aus Protest eine AfD wählen will, die nur auf Hass setzt und deren Wirtschafts- und Finanzpolitik dem „kleinen Mann“ sicher zuletzt hilft, der hat wohl nicht alle Tassen im …

Sie wissen schon.

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Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.Klartext als Newsletter? Hier anmelden.

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