Essen. Kriminelle Clans verhöhnen den Staat – in Essen und anderswo in Deutschland. Das Schlimmste daran ist: Sie haben allen Grund dazu.
Dienstagabend, Limbecker Platz in Essen, Feierabend, ich fahre nach Hause. Aus dem Radio schwappt ein etwas verträumtes Coldplay-Gedudel, und in Gedanken bin ich schon bei meinen Kindern, die auf mich warten. Plötzlich überholt mich rechts ein weißer AMG-Mercedes in einem mordsmäßigen Tempo, um dann mit quietschenden Reifen an der roten Ampel stehenzubleiben. Einige Fußgänger, darunter ein kleiner Junge, zucken zusammen.
Die Fahrertür geht auf. Ein Mann mit dunklem Bart und verspiegelter Sonnenbrille spuckt etwas auf die Straße. Tür zu, Ampel grün, AMG wieder weg. Von null auf hundert im Nullkommanix. „Aha“, denke ich, „ein Clan-Krimineller“ – und erschrecke. Ist das nicht eine unzulässige Stereotypisierung? Ist das am Ende so etwas wie Alltagsrassismus? Muss ich mich jetzt schämen? Meine Antwort lautet: Nein, nein und nein.
Clan-Tumulte in Essen
Solche unangenehmen Begegnungen auf der Straße sind ja in Essen keine Ausnahme mehr. „Unangenehme Begegnung“: Das ist eher eine Unter- als Übertreibung, wenn wir etwa an die Clan-Tumulte Mitte Juni in der Essener Innenstadt denken. 400 Einsatzkräfte waren vor Ort. 169 an den Ausschreitungen beteiligte Männer wurden identifiziert. Es geht um Landfriedensbruch, Körperverletzung, Sachbeschädigung; es geht um verbotene Waffen, um Angriffe auf Polizeibeamte.
Jetzt hat die Polizei die Wohnung eines 24-jährigen Syrers durchsucht, der Polizisten mit Reizgas besprüht haben soll. Ob er, einer von 169, am Ende wirklich belangt werden kann, steht in den Sternen. Es ist gut möglich, dass nichts passiert, keinem der 169, auch dem 24-Jährigen nicht. Darf man das schreiben, dass er ein Syrer ist? Diskriminiert das nicht alle bei uns lebenden Syrer?
Immer mehr Kriminelle sind Syrer
Es sind nicht alle Syrer kriminell. Aber immer mehr Kriminelle sind Syrer. Das sind statistisch belegbare Tatsachen. Nicht ohne Grund nimmt die Essener Polizei neben den libanesischen Milieus nun auch die Kriminellen unter den rund 16.000 syrischen Zuwanderern in der Stadt genauer ins Visier. Gut so!
Die Probleme mit der Clan-Kriminalität nehmen zu; und sie werden vielschichtiger. Jetzt sind es rivalisierende Clans, die sich heute bekämpfen und morgen einen sogenannten Friedensrichter einschalten, um einen Waffenstillstand auszuhandeln. Das macht etwas mit der Stadtgesellschaft. Das Sicherheitsgefühl leidet – und im Nachgang auch das Selbstwertgefühl. Zählen unsere in Gesetze gegossenen Werte nicht? Ist unser Staat nur eine zahnlose Miezekatze, unsere Staatsmacht eher eine Staatsohnmacht?
100 Euro Trinkgeld für die Polizei
Frank Richter, langjähriger Polizeipräsident Essens, hat neulich in einem Interview beschrieben, wie ein 25-jähriger Transferleistungsempfänger hinter dem Steuer eines 100.000-Euro-Wagens angehalten wurde und wegen eines Verkehrsverstoßes 20 Euro Bußgeld zahlen sollte. Großzügig legte er 100 Euro Trinkgeld drauf und sagte den verdutzten Beamten, sie hätten ja sonst nichts zu lachen.
Kriminelle Clans machen, was sie wollen, sagt Richter und fügt hinzu: „Unser Staat hat diese Entwicklung verschlafen.“ Ein Staat freilich, zu dem auch die Polizei gehört, der Richter 46 Dienstjahre in zum Teil leitender Funktion angehörte. Was haben die Frank Richters dieser Welt selbst verschlafen?, möchte man ihm zurufen. Was wurde erreicht, damit der Staat und seine Staatsmacht wieder auf Augenhöhe kommen mit ihren Widersachern?
Luxus-Karossen einziehen
„Wie Sie sehen, sehen Sie nichts!“ Dieser Satz stammt von der Fernseh-Legende Hans-Joachim Kuhlenkampff, als in seiner Sendung „Einer wird gewinnen“ das Licht für längere Zeit ausfiel und Reparaturversuche scheiterten. In Sachen Clan-Kriminalität werden Reparaturen nicht einmal versucht. Sie werden nur angekündigt. Es wird allerlei ge- und zerredet, doch am Ende gewinnt immer nur einer: der Kriminelle.
Bundesjustizminister Marco Buschmann, FDP, Wahlkreis in Gelsenkirchen, hat vorgeschlagen, „unkonventionell“ gegen kriminelle Clans vorzugehen und auch mal Vermögenswerte einzuziehen: Statussymbole wie Luxus-Karossen, Uhren, Schmuck. Der Rechtsstaat müsse zeigen, „dass er Zähne hat“, ließ er sich zitieren. Das ist jetzt ein paar Monate her. Doch, liebe Bürgerinnen und Bürger, wie Sie sehen, sehen Sie nichts. Nach den Schlagzeilen kam nichts mehr.
Faeser und die Sippenhaft
Buschmanns Kabinettskollegin Nancy Faeser (SPD) will ebenfalls den Druck erhöhen und Mitglieder krimineller Clans ausweisen, auch wenn sie selbst unmittelbar (noch) keine Straftaten begangen haben. Im Kampf gegen terroristische Vereinigungen geht der Staat ähnlich vor. Prompt wirft ihr Pro Asyl vor, sie wolle die „Sippenhaft“ wieder einführen, die es so bei den Nazis gab. Der Vorwurf ist nicht nur irreführend und unsinnig, sondern auch schäbig.
Nicht ganz so schäbig, dafür aber zumindest kontraproduktiv, ist die Reaktion von NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) auf den Faeser-Vorschlag. „Wahlkampf“ wirft er seiner Berliner Kollegin vor. Und in der Tat ist das, was Faeser gerade macht, immer auch Wahlkampf, denn sie will – obgleich nahezu chancenlos – in Kürze Ministerpräsidentin in Hessen werden.
Essener Polizei guckt in die Röhre
So what? Ist in der Politik nicht immer irgendwo auch Wahlkampf? Macht das automatisch jeden Vorschlag schlecht? Und wenn es so wäre: Würde das konstruktive Politik nicht zur Unmöglichkeit machen? Wie Sie sehen, sehen Sie nichts! Faesers Vorschlag ist tot, bevor sich irgendwer auch nur ernsthaft damit auseinandergesetzt hat.
Zwölf zusätzliche Planstellen solle die Kreispolizeibehörde in Essen zur Bekämpfung der Clan-Kriminalität bekommen, hieß es aus dem Reul-Ministerium als Antwort auf eine Anfrage des Essener FDP-Abgeordneten Ralf Witzel. Friede? Freude? Pustekuchen! Schnell stellte sich heraus, dass sich die Angaben auf Stellen bezogen, die bereits vor einem Jahr oder schon früher geschaffen worden waren.
Wie Sie sehen, sehen Sie nichts!
Sozialwohnungen für Clan-Kriminelle?
Das Schlimmste ist nicht, dass kriminelle Clans den Staat verhöhnen. Das Schlimmste ist, dass sie allen Grund dazu haben, höhnisch zu sein. Über diese Form des Staatsversagens könnte man sich zurecht aufregen. Stattdessen streiten wir, wir als Gesellschaft, aber über die Frage, ob man Clan-Kriminalität überhaupt so nennen dürfe.
Die ehrwürdige „Frankfurter Rundschau“ etwa will den Begriff nicht mehr verwenden – oder höchstens noch in distanzierende An- und Abführungszeichen hüllen. Sie führt den Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes an, für den Kriminalität allein „eine Frage der sozialen Lage“ ist. Hilfreich seien etwa „aufsuchende Sozialarbeit“ bis hin zu „erschwinglichen Wohnungen“.
Ich denke an den Typen im AMG-Mercedes am Limbecker Platz. Ich weiß nicht, ob er ein Clan-Krimineller ist. Was ich aber weiß: Einigen von uns fehlen offenbar nicht nur ein paar Tassen im Schrank, sondern ganze Regale.
Das ist Klartext
Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.Klartext als Newsletter? Hier anmelden.
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